Gibt es ein Recht
auf Einwanderung?
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von Thomas Leske

Absperrgitter

Zusammenfassung Einwanderungsbeschränkungen verletzen das Anscheinsrecht (engl. prima facie right) Einwanderungswilliger, keinem schädlichem Zwang ausgesetzt zu werden. Dieses Anscheinsrecht wird nicht durch die wirtschaftlichen, fiskalischen und kulturellen Folgen der Einwanderung entkräftet oder verdrängt – und auch nicht durch die besondere Pflicht, welche der Staat gegenüber seinen eigenen Bürgern und speziell den Ärmsten unter ihnen hat. Er hat gleichfalls kein Recht, Bedingungen für die Staatsbürgerschaft in gleicher Weise aufzustellen, wie dies private Clubs als Voraussetzung für die Mitgliedschaft tun.

Stichworte: Einwanderung, ethische Intuition

Zitiervorschlag: . „Gibt es ein Recht auf Einwanderung?“. In Wider die Anmaßung der Politik, Thomas Leske (Hrsg., Übers., Verlag), Gäufelden 2015, ISBN 978-3981761603, S. 103147, Fassung vom 2016-08-02. [Auf einzelne Stellen können Sie über die Randnummern verweisen. Diese entsprechen den Seitenzahlen des englischen Ausgangstexts.]

1 Die Einwanderungsfrage

[429] Jedes Jahr wandern fast eine Million Menschen aus fremden Ländern legal in die Vereinigten Staaten ein. Doch viele weitere werden abgewiesen. Menschen, die ohne Genehmigung der US-Regierung hereinkommen wollen, werden regelmäßig an der Grenze aufgehalten, und jene, welche man innerhalb des Staatsgebietes aufgreift, werden zwangsweise abgeschoben.[1] Hunderttausende versuchen fortwährend sich einzuschmuggeln und sterben gelegentlich beim Versuch.[2] Anscheinend wirft dies ethische Fragen auf. Ist es richtig, Einwanderungswillige mit Gewalt davon abzuhalten, in den Vereinigten Staaten zu leben? Auf den ersten Blick scheinen die Ausgeschlossenen einen ernsten Schaden zu erleiden. Was gibt uns das Recht, ihnen diesen Schaden aufzubürden?
Einige folgern, ebenso wie ein Verein nach eigenem Ermessen entscheiden kann, wen er aufnimmt oder ablehnt, habe auch ein Nationalstaat das Recht zu bestimmen, wen er aufnimmt oder ablehnt. Einige glauben, wir müssten die meisten Einwanderungswilligen ausschließen, um die kulturelle Integrität unseres Volkes zu wahren. Andere behaupten, Einwanderer bescherten den angestammten Bürgern wirtschaftliche Not, sie nähmen Amerikanern Arbeitsplätze weg, drückten die Löhne [430] und fielen den staatlichen Sozialsystemen übermäßig zur Last. Einige gehen so weit, davor zu warnen, dass unkontrollierte Einwanderung ökologische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Katastrophen verursache, welche die Vereinigten Staaten auf den Stand eines Dritte-Welt-Lands zurückwürfen.
Wenige würden das Recht des Staates in Frage stellen, zumindest einige Einwanderungswillige auszuschließen. Beispielsweise darf der Staat internationalen Terroristen oder gesuchten Kriminellen den Zutritt verwehren. Die interessante Frage betrifft die große Mehrheit der anderen Einwanderungswilligen – gewöhnliche Menschen, die schlicht ein neues Zuhause und ein besseres Leben suchen. Hat der Staat das Recht, diese gewöhnlichen Menschen auszuschließen?
Im Folgenden lege ich dar, dass die Antwort auf diese Frage nein lautet. Ich gehe dabei davon aus, dass wir gewöhnliche nicht-kriminelle Einwanderer betrachten, die ihr Herkunftsland aus moralisch einwandfreien Gründen verlassen wollen, egal ob sie vor politischer Verfolgung oder wirtschaftlicher Not fliehen oder sich schlicht einer Gesellschaft anschließen wollen, in der sie gerne leben würden. Obwohl ich die Erörterung im Hinblick auf die Lage der Vereinigten Staaten führe, passen die meisten meiner Argumente ebensogut auf andere Länder.
Meine Strategie besteht darin, zuerst darzulegen, dass es sich bei einer Einwanderungsbeschränkung zumindest um eine Anscheinsverletzung (engl. prima facie violation) des Rechts Einwanderungswilliger handelt. Dies legt Verfechtern einer Beschränkung die Beweislast auf, einige besondere Umstände zu nennen, welche das betreffende Anscheinsrecht entweder entkräften oder verdrängen. Ich fahre mit der Untersuchung der gängigsten Rechtfertigungen für Einwanderungsbeschränkungen fort, wobei ich zu dem Schluss komme, dass keine davon eine glaubwürdige Begründung dafür liefert, dass solche Beschränkungen entweder keine Rechte verletzen oder dass deren Verletzung gerechtfertigt ist; wodurch Einwanderungsbeschränkungen sich letztlich als unbegründet erweisen.
Eine Anmerkung zu den theoretischen Annahmen. Meiner Meinung nach sind die meisten allgemeinen Theorien oder theoretischen Ansätze der politischen Philosophie – egalitärer Liberalismus, Vertragstheorie, Utilitarismus usw. – zu umstritten, um eine sichere Argumentationsgrundlage zu bilden. Es ist unbekannt, welche dieser Theorien korrekt ist, sollte es überhaupt eine davon sein. Daher war ich bestrebt, die Abhängigkeit von solchen Theorien zu minimieren. Das bedeutet nicht, dass ich solche allgemeinen Theorien generell für falsch halte; ich zögere lediglich damit, meine Überlegungen auf sie zu stützen. Daher setze ich weder Utilitarismus noch Vertragstheorie noch libertäre Rechtslehre noch egalitären Liberalismus voraus noch irgendeine allgemeine Aufstellung von Schäden oder Rechten. Und ich nehme auch nicht die Verneinung einer dieser Theorien an. Stattdessen will ich meine Schlussfolgerungen auf weit verbreitete ethische Intuitionen in recht spezifischen Fällen stützen. Die Herangehensweise besteht darin, einen Fall samt einer bestimmten Handlung zu beschreiben, über den nahezu jedermann klar und intuitiv in derselben Weise urteilt, und von diesem eine Analogie zu einem wichtigen umstrittenen Fall zu ziehen. Diese Methode folgt einer bestens bekannten Tradition angewandter Sittenlehre. [431] [3] Ich schlage vor, diesen Ansatz auf die Einwanderungsfrage anzuwenden. Der Ansatz ist selbstverständlich kritikwürdig insbesondere wegen der Betonung verbreiteter ethischer Intuition. Dies ist jedoch kein geeigneter Ort, den generellen Wert ethischer Intuition zu diskutieren.[4] Jedenfalls sind die intuitiven Prämissen, auf welche ich mich stütze, hoffentlich viel weniger umstritten als die umfassenden philosophischen Theorien der oben genannten Art und anfänglich viel weniger umstritten als die Einwanderungsfrage selbst.

2 Einwanderungsbeschränkung als Anscheinsrechtsverletzung

In diesem Abschnitt will ich zeigen, dass es sich bei Einwanderungsbeschränkungen um Anscheinsrechtsverletzungen handelt. Eine Anscheinsrechtsverletzung ist eine Handlung, welche normalerweise – ohne besondere Begleitumstände – die Rechte eines Menschen verletzt. Beispielsweise ist die Tötung eines Menschen eine Anscheinsrechtsverletzung: Unter gewöhnlichen Umständen bedeutet, jemanden zu töten, dessen Rechte zu verletzen. Aber besondere Umstände können dieses Urteil ändern: Sterbehilfe und Töten in Notwehr verletzen beispielsweise keine Rechte. Außerdem kann eine Handlung, selbst wenn sie Rechte verletzt, gelegentlich trotzdem gerechtfertigt sein, weil die Rechte des Opfers durch widerstreitende moralische Überlegungen verdrängt werden können. Daher kann die Tötung eines Unschuldigen gerechtfertigt sein, obgleich es sich um eine Verletzung seines Rechts auf Leben handelt, wenn diese notwendig ist, um den Tod von einer Million anderen zu verhindern. Jedenfalls erscheint es mir so.
Die Behauptung, eine Handlung stelle eine Anscheinsrechtsverletzung dar, ist daher nicht besonders weitreichend. Sie beinhaltet nicht, die Handlung sei unter Berücksichtigung aller Umstände falsch, denn es mag besondere Begleitumstände geben, welche verhindern, dass es sich tatsächlich um eine Rechtsverletzung handelt, oder welche die Handlung rechtfertigen, obgleich sie Rechte verletzt. Aber die Behauptung ist auch nicht völlig kraftlos: Die Einstufung einer Handlung als Anscheinsrechtsverletzung bewirkt eine Verschiebung der normativen Annahme. Die Beweislast liegt nun bei den Verfechtern der fraglichen Handlung, spezielle entschuldigende oder rechtfertigende Umstände aufzuzeigen, die gegen das Vorliegen einer Rechtsverletzung im speziellen Fall sprechen oder diese rechtfertigen. Die Gegner der fraglichen Handlung brauchen nur diese Einwände zu entkräften.
Bevor wir uns der Einwanderungsfrage zuwenden, bitte ich den Leser, sich folgendes Szenario vorzustellen. Marvin braucht dringend etwas zu essen. Vielleicht hat jemand seine Lebensmittel gestohlen oder eine Naturkatastrophe seine Ernte zerstört. Jedenfalls droht Marvin aus irgendeinem Grund zu verhungern. Glücklicherweise besinnt er sich auf Abhilfe: Er hat vor, auf den örtlichen Marktplatz zu gehen und dort Brot zu kaufen. Angenommen [432] sein Plan gelingt, falls niemand diesen durchkreuzt: Der Markt hat geöffnet, und dort gibt es Leute, die bereit wären, Marvin Nahrung einzutauschen für etwas, das er besitzt. Ein Dritter, Sam, weiß das alles und beobachtet Marvin. Aus irgendeinem Grund beschließt Sam, sich Marvin in den Weg zu stellen und ihn gewaltsam am Erreichen des Marktes zu hindern. Infolgedessen kehrt Marvin mit leeren Händen nach Hause zurück, wo er verhungert.
Wie sollen wir Sams Handlung bewerten? Hat Sam Marvin geschadet? Hat er dessen Rechte verletzt? War Sams Handlung verwerflich?
Mir scheint, dass es darauf klare Antworten gibt. Sams Verhalten in diesem Szenario war sowohl extrem schädlich für Marvin als auch eine schlimme Verletzung von Marvins Rechten. Wenn Marvins Tod absehbar war, dann handelt es sich bei Sams Tat gewiss um Mord. Wenn keine besonderen Umstände vorliegen, die in der obigen Beschreibung nicht erwähnt wurden, war Sams Verhalten äußerst verwerflich.
Intuitiv wäre Sams Verhalten immer noch verwerflich, wenn Marvin einen weniger schlimmen Schaden erlitte. Angenommen statt bald nach der Heimkehr zu sterben, leidet Marvin absehbar unter schwerer Mangelernährung. Wieder angenommen dieses Unglück wäre zu vermeiden gewesen, hätte Marvin auf dem Markt Handel treiben können, wovon ihn Sam aber gewaltsam abgehalten hat. Auch in diesem Fall scheint Sam Marvins Rechte zu verletzen und ihm auf verwerfliche Weise zu schaden.
Was zeigen diese Beispiele? Ich meine, sie zeigen zunächst einmal, dass Menschen ein negatives Anscheinsrecht haben, keinem ernsthaft schädlichen Zwang ausgesetzt zu werden. In dem Szenario übte Sam gemäß Annahme durch sein Verhalten Zwang aus. Es beinhaltete den Einsatz oder die Androhung körperlicher Gewalt gegen Marvin, wodurch dessen Handlungsfreiheit erheblich eingeschränkt wurde. Diese war zugleich äußerst schädlich, dadurch dass sie zu Marvins Hungertod führte. Diese Fakten scheinen zu erklären, warum Sams Tat eine Verletzung von Marvins Rechten war, und warum sie verwerflich war.
Woher wissen wir, dass Sam Marvin geschadet hat? Unter einem „Schaden“ versteht man allgemein einen Rückschlag für die Interessen einer Person.[5] Marvins Hungertod stellt mit Sicherheit einen Rückschlag seiner Interessen dar. Ferner bedarf es aus meiner Sicht [433] in diesem Fall keiner philosophischen Schadenstheorie. Es mag Grenzfälle geben, bei denen man sich auf eine Theorie berufen muss, um zu bestimmen, ob ein Ereignis als Schaden gilt oder nicht. Aber bei der Geschichte des hungernden Marvin handelt es sich nicht um solch einen schwierigen Fall. Marvins Tod ist ein Musterbeispiel für Schaden.
Doch es gibt einige, die zwischen aktivem Zufügen und bloßem Zulassen von Schaden unterscheiden. Und manche glauben, das Zulassen sei sehr viel weniger verwerflich als das Zufügen von Schaden – vielleicht sogar überhaupt nicht verwerflich.[6] Diese Sichtweise ist umstritten. Glücklicherweise brauchen wir den Streit hier gar nicht zu lösen, weil es im Fall von Sam und Marvin nicht ums bloße Zulassen von Schaden geht. Hätte Sam nur untätig dagestanden und sich geweigert, Marvin Nahrung zu geben, dann könnte man sagen, Sam habe Marvins Tod zugelassen. Aber die Geschichte lautet anders – nämlich so, dass Marvin Nahrung beschaffen will, und Sam aktiv und gewaltsam eingreift, um Marvin davon abzuhalten. Es handelt sich um ein Zufügen von Schaden und, weil der Schaden den Tod beinhaltet, um Mord.[7] Ich halte all das für ein Urteil des gesunden Menschenverstands.
Ein paar Worte dazu, was ich hier nicht behaupte. Ich behaupte nicht, jede Ausübung von Zwang sei schädlich. Paternalistischer Zwang muss beispielsweise nicht schädlich sein. Und schädliche Handlungen sind auch nicht unbedingt mit Zwang verbunden. Man kann einem Menschen beispielsweise dadurch schaden, dass man falsche Gerüchte über ihn in die Welt setzt, ohne dabei körperliche Gewalt anzuwenden. Ich behaupte lediglich, Sams gewaltsamer Eingriff in Marvins Versuch, den Marktplatz zu erreichen, sei sowohl schädlich als auch gewaltsam. Gleichfalls behaupte ich weder, jedwede Gewaltanwendung verletze Rechte, noch jedwede schädliche Handlung tue dies. Ich behaupte lediglich, eine gewaltsame und ernsthaft schädliche Handlung neige aufgrund dieser Eigenschaften dazu, eine Rechtsverletzung zu sein, wenn keine besonderen Umstände vorliegen; das heißt sie sei eine Anscheinsrechtsverletzung (Prima-Facie-Rechtsverletzung). Im beschriebenen Szenario verletzt Sam durch sein Verhalten Marvins Rechte, weil es sich um die Ausübung äußerst schädlichen Zwangs handelt, und keine wesentlichen mildernden Umstände vorliegen. Sams Handlung könnte gerechtfertigt sein, wäre sie beispielsweise notwendig, um den Tod Millionen unschuldiger Menschen zu verhindern; oder vielleicht wenn Marvin aus irgendeinem Grund mit Sam vereinbart hätte, dass er ihn gewaltsam davon abhalten soll, den Marktplatz zu erreichen. Doch nehmen wir an, nichts dergleichen treffe zu. Der Fall stelle sich so dar, wie ursprünglich beschrieben, ohne besondere Begleitumstände. Kaum einer würde dann bezweifeln, dass Sams Verhalten unzulässig ist.
Was hat das alles mit der US-Einwanderungspolitik zu tun? Die Rolle Marvins nehmen Einwanderungswillige ein, welche vor Unterdrückung oder wirtschaftlicher Not fliehen. Der Marktplatz steht für die Vereinigten Staaten: Ließe man sie herein, sorgten die meisten Einwanderer erfolgreich für ihr Auskommen (jedenfalls immerhin ein größerer Anteil unter ihnen verglichen mit ihrer Aussperrung). [434] In die Rolle von Sam schlüpft die Regierung der Vereinigten Staaten, welche strenge Einwanderungsbeschränkungen erlassen hat. Diese Beschränkungen werden mit Zwang durchgesetzt: Bewaffnete Wachleute werden angeheuert, um unerlaubtes Eindringen handgreiflich zu unterbinden, und bewaffnete Staatsdiener halten Einwanderer gewaltsam auf bzw. schieben sie gewaltsam ab, wenn sie sich gesetzwidrig niederlassen und aufgegriffen werden. Wie im Falle von Sams Festhalten von Marvin schadet auch der Ausschluss illegaler Einwanderer den Betroffenen sehr: Viele leiden unter Unterdrückung oder Armut, die vermeidbar wären, ließe man sie nur ins Land ihrer Wahl einreisen. In Anbetracht dessen stellen die Maßnahmen der US-Regierung anscheinend (prima facie) eine schwere Verletzung der Rechte von Einwanderungswilligen dar – insbesondere verletzen sie deren Anscheinsrecht, keinem schädlichen Zwang ausgesetzt zu werden.
Was könnten Befürworter einer Begrenzung gegen diese Argumente einwenden? Einige könnten behaupten, die Vereinigten Staaten verweigerten mit der Aussperrung Einwanderungswilliger diesen lediglich einen Gefallen oder ließen lediglich Schaden zu statt ihnen tatsächlich Schaden zuzufügen. Manchen Ansichten zufolge haben Menschen nur das Recht, dass ihnen in gewisser Hinsicht kein Schaden zu gefügt wird aber keines auf aktive Hilfe.[8] Für die Meinung, Einwanderungsbeschränkungen ließen lediglich Schaden zu, sprechen mindestens zwei Gründe. Erstens mag man denken, die Vereinigten Staaten seien nicht Ursache des Leids von Einwanderungswilligen. Vielleicht sind Naturkatastrophen oder korrupte ausländische Regierungen für das Leid verantwortlich. Diese Behauptung ist umstritten;[9] sie sei jedoch der Diskussion halber zugestanden. Zweitens könnte man denken, die V. S. schadeten Einwanderungswilligen nicht, indem sie ihnen die Einreise verweigern, weil es sich beim verweigerten Gut um eines handele, das die V. S. selbst hervorbrächten, und es sich bei der Verweigerung eines Gefallens, auch wenn diese aktives Einschreiten erfordert, nur um eine Versagung handele statt um eine Schädigung.[10]
Als Antwort auf den ersten Einwand sollten wir erkennen, dass man [435] einem Menschen schaden kann, ohne den Schaden selbst anzurichten, unter welchem derjenige leidet: Man kann einem Menschen schaden, indem man ihn an der Vermeidung oder Behebung eines Schadens hindert, welchen jemand anderes oder etwas anderes angerichtet hat. Darin besteht die Lehre aus dem Fall Sam-Marvin: Sam war zunächst nicht der Verursacher von Marvins Nahrungsengpass. Man möge annehmen, Marvin drohe der Hungertod infolge einer Naturkatastrophe, die seine Ernte vernichtet hat, oder weil er seiner Vorräte beraubt wurde. Für diese Ausgangslage wäre Sam nicht verantwortlich. Doch wenn Sam aktiv und gewaltsam in Marvins Bemühungen eingreift, das Problem zu beheben, wird er damit verantwortlich für Marvins Unglück.
Beachten Sie in Erwiderung auf die zweite Frage, dass es sich beim Akteur, dessen Tun ich verwerflich finde, nicht um die Vereinigten Staaten (die Gesellschaft als Ganzes) handelt sondern nur um die US-Regierung. Indem sie Einwanderungswilligen den Zutritt verwehrt, verweigert sie diesen bestimmte Vergünstigungen einschließlich aller sozialer Leistungen, welche sie erhielten, gewährte man ihnen die US-Bürgerschaft. Dabei handelt es sich aber nicht um den Schaden, von welchem ich behaupte, die Regierung füge ihn Einwanderungswilligen zu. (Vielleicht geht hier eine Schädigung vom Staat aus, vielleicht auch nicht – darauf kommt es mir an dieser Stelle nicht an.) Die US-Regierung verweigert den meisten Einwanderungswilligen gleichfalls Unterstützung in Form von Entwicklungshilfe. Doch wiederum handelt es sich dabei nicht um den Schaden, welchen ich ihr vorwerfe. Die Weise, in der sie Einwanderungswilligen schadet, besteht darin, diese von bestimmten Landflächen auszuschließen und dadurch faktisch auch von wichtigen und wertvollen Interaktionen mit deren Bewohnern (Regierungsangehörige ausgenommen). Viele Amerikaner würden mit diesen Einwanderungswilligen gerne Handel treiben oder sie einstellen, wobei es den Einwanderungswilligen gelänge, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Die Regierung weigert sich nicht lediglich, ihnen Güter zukommen zu lassen oder mit ihnen Handel zu treiben. Sie verwendet viel Aufwand und Mittel darauf, Amerikaner davon abzuhalten, mit ihnen in nennenswertem Umfang Handel zu treiben bzw. sie zu beschäftigen.[11]
Worauf ich hinaus will, wird beim Rückgriff auf den Fall Marvin vielleicht klarer verständlich. Wenn Sam sich weigert, Marvin Lebensmittel zu verkaufen, verweigert er ihm damit einen Gefallen. Aber wenn er ihn aktiv davon abhält, [436] mit Händlern auf dem Marktplatz zu tauschen, welche gerne mit Marvin Handel trieben, fügt er ihm dadurch Schaden zu. Er schlägt ihm nicht nur einen Gefallen aus.
Sams Handlung könnte gerechtfertigt sein, wenn besondere Begleitumstände vorliegen, die bislang nicht erwähnt wurden. Diese müssten entweder das Recht außer Kraft setzen, von schädlichem Zwang verschont zu werden, über welches Marvin normalerweise verfügt, oder moralisch schwerer wiegen als dieses Recht [– es also verdrängen]. In gleicher Weise zeigt das bislang Gesagte nicht, dass die Einwanderungsbeschränkungen der US-Regierung generell falsch sind, sondern nur dass die Verteidiger dieser Maßnahme die Beweislast tragen und die Beschränkungen rechtfertigen müssen. Angesichts der Schwere der Schäden in dieser Angelegenheit muss eine solche Rechtfertigung entsprechend eindeutig und kraftvoll ausfallen.

3 Gründe für Beschränkungen

Schädlicher Zwang ist manchmal gerechtfertigt. Dies mag der Fall sein, wenn er notwendig ist, um einen Unschuldigen gegen schädlichen Zwang zu verteidigen, oder um sehr viel schlimmere Folgen abzuwenden. Er mag vielleicht auch aufgrund einer vorigen Vereinbarung gerechtfertigt sein, die der Adressat dieses Zwangs eingegangen ist. Und es mag weitere Umstände geben, die ebenfalls schädlichen Zwang rechtfertigen.[12] Beispielsweise glauben manche, dieser sei aufgrund einer Notwendigkeit gerechtfertigt, schwere wirtschaftliche Ungleichheit zu berichtigen. Letztere Behauptung ist umstritten, wie es auch viele andere angebliche Rechtfertigungen schädlichen Zwangs wären. Dies verdeutlicht einen der Gründe, weshalb eine allgemeine Theorie der Bedingungen für gerechtfertigten schädlichen Zwang schwer aufzustellen und noch schwerer zu verteidigen wäre.
Glücklicherweise mag sich herausstellen, dass wir keiner derart allgemeinen Theorie bedürfen. Einige Arten von Gründen, einschließlich der im vorigen Absatz genannten, sind allgemein anerkannte Rechtfertigungen schädlichen Zwangs. Gleichfalls gibt es einige Arten von Gründen, bei denen wir intuitiv auch ohne eine allgemeine Theorie erkennen, dass es sich nicht um legitime Rechtfertigungen schädlichen Zwangs handelt. Beispielsweise ist man nicht berechtigt, schädlichen Zwang auf eine Person auszuüben, nur weil man ihre Schuhe haben will oder ihre Rasse hasst oder ihre philosophischen Ansichten nicht teilt. Wie die richtige Theorie der Rechtfertigung schädlichen Zwangs auch lauten mag, jene Gründe gehören sicherlich nicht dazu. Vor uns liegt die Aufgabe herauszufinden, ob rechtfertigende Umstände für den schädlichen Zwang von Einwanderungsbeschränkungen [437] vorliegen. Angesichts der Tatsache, dass es sich bei Einwanderungsbeschränkungen um Anscheinsrechtsverletzungen handelt, liegt die Beweislast bei deren Verfechtern. Daher können wir uns daran machen, die Gründe in Betracht zu ziehen, die sie zur Beschränkung der Einwanderung vorgebracht haben. Sollte sich herausstellen, dass all diese Gründe der Kategorie angehören, die eindeutig keine gültige Rechtfertigung für schädlichen Zwang bietet, dann ist der Schluss angemessen, dass Einwanderungsbeschränkungen ungerechtfertigt sind.

3.1 Einwanderung und Arbeitsmarkt

Die im landläufigen Diskurs gängigste Klasse von Argumenten für eine Drosselung oder einen Stopp der Einwanderung ist wirtschaftlicher Natur. Man sagt, Einwanderer nähmen Amerikanern Arbeitsplätze weg, und sie verursachten eine Senkung des Lohnniveaus aufgrund ihrer Bereitschaft, für niedrigere Löhne zu arbeiten als amerikanische Arbeiter.[13] Zugleich sind Volkswirte nahezu geschlossen der Ansicht, die wirtschaftlichen Folgen von Einwanderung für die alteingesessenen Amerikaner seien insgesamt positiv.[14] Diese Behauptungen sind miteinander vereinbar: Bestimmte Industriezweige ziehen Einwanderer wahrscheinlich überdurchschnittlich stark an. Den bisherigen Arbeitern in diesen Industriezweigen ergeht es schlechter aufgrund des Wettbewerbs mit eingewanderten Arbeitern. Gemäß einer Schätzung hat die Einwanderung während der 1980er die Löhne einheimischer Arbeiter in den am stärksten betroffenen Industriezweigen um 1–2 % gedrückt (5 % bei Abbrechern der Oberschule).[15] Zugleich geht es den Arbeitgebern und Kunden [438] dieser Industriezweige aufgrund niedrigerer Fertigungskosten besser, und deren wirtschaftlicher Zugewinn übersteigt die wirtschaftlichen Einbußen der Arbeiter. Einige Volkswirte haben Einwanderungsgegnern vorgeworfen, die wirtschaftlichen Vorteile der Einwanderung zu übersehen, weil sie gegenüber Ausländern und Angehörigen anderer Rassen voreingenommen seien.[16]
Stellen wir die Frage nach der wirtschaftlichen Gesamtwirkung von Einwanderung einmal zurück und konzentrieren uns stattdessen auf folgende Frage: Wenn wir einräumen, dass Einwanderung zu Einbußen für einige amerikanische Arbeiter führt, zeigt das dann, dass Einwanderungsbeschränkungen nicht die Rechte von Einwanderungswilligen verletzen, und wenn doch, dass diese Verletzung gleichwohl gerechtfertigt ist? Oder ist es – allgemeiner gesagt – eine gültige Rechtfertigung schädlichen Zwangs, dass dieser notwendig ist, um jemand anders vor leichten bis mittleren Einbußen durch den Wettbewerb zu schützen?
Das scheint mir nicht der Fall zu sein. Betrachten wir zwei ähnliche Beispiele: Im Ersten bewerbe ich mich um eine bestimmte Stelle, von der ich weiß, dass Bob mein einziger Mitbewerber ist. Mir ist ebenfalls bekannt, dass Bob bereit ist, für ein niedrigeres Gehalt zu arbeiten verglichen mit dem Gehalt, das ich erzielen könnte, wäre ich der einzige Bewerber. An dem Tag, an dem Bobs Vorstellungsgespräch anberaumt ist, passe ich ihn ab und versperre ihm den Weg dorthin. Auf mein augenscheinlich unannehmbares Verhalten angesprochen erkläre ich, meine Handlung sei notwendig, um mich davor zu schützen, dass Bob die Stelle erhält, die sonst ich erhielte, bzw. davor dass ich ein niedrigeres Gehalt in Kauf nehmen müsste, um die Stelle zu bekommen. Ist dies eine ausreichende Rechtfertigung meines Verhaltens? Zeigt sie, dass mein schädlicher Zwang – entgegen dem ersten Eindruck – Bobs Rechte gar nicht verletzt? Oder wenn es sich doch um eine Rechtsverletzung handelt, zeigt sie dann, dass jene ethisch gerechtfertigt war?
Mit Sicherheit nicht. Der bloße Umstand, dass Bob mit mir im Wettbewerb um eine begehrte Stelle steht, oder dass Bob sich mit einem niedrigeren Gehalt zufrieden gibt, als ich es ohne seine Konkurrenz erzielen könnte, führt nicht zur Aufhebung oder Entkräftung von Bobs Recht, keinem schädlichen Zwang ausgesetzt zu werden. Und mein Interesse, weniger wirtschaftlichem Wettbewerb ausgesetzt zu werden, verdrängt auch nicht Bobs Recht, keinem schädlichen Zwang ausgesetzt zu werden. Wenn ich sehr viel dringender als Bob auf die Stelle angewiesen wäre, dann würden vielleicht einige behaupten, ich sei berechtigt, Bobs Rechte beiseite zu schieben. Wir brauchen uns nicht genau festzulegen, wann ein Recht verdrängt werden darf, noch ob eine größere wirtschaftliche Not eine angemessene Grundlage dafür bilden würde, das Recht eines Wettbewerbers zu verdrängen, keinem schädlichen Zwang ausgesetzt zu werden. An dieser Stelle müssen wir nicht darüber befinden, weil wir einfach unterstellen können, dass Bob mindestens so dringend wie ich auf die Stelle angewiesen wäre, [439] um welche wir konkurrieren. Bei dieser Sachlage würde niemand sagen, Bobs Recht, keinem schädlichen Zwang ausgesetzt zu werden, werde außer Kraft gesetzt oder verdrängt.
Mein zweites Beispiel ist eine Abwandlung der Geschichte von Sam und Marvin. Wie gehabt will Marvin auf den Markt gehen, um Lebensmittel zu beschaffen. Aufgrund seiner wirtschaftlichen Verhältnisse muss Marvin das billigste Brot kaufen, das auf dem Markt erhältlich ist. Doch Sams Tochter will etwas später am Tag ebenfalls auf den Markt gehen und von demselben Brot kaufen. Dieses Brot ist häufig knapp, so dass der Händler nach Marvins Kauf womöglich ausverkauft ist. Sams Tochter könnte teureres Brot kaufen, will das aber nicht. In Kenntnis all dessen befürchtet Sam, dass wenn Marvin zum Markt durchgelassen wird, seine Tochter daraufhin einen etwas höheren Preis für Brot bezahlen müsste, als ihr lieb ist. Um dies zu verhindern, spricht er Marvin an und stellt sich ihm in den Weg, um ihn vom Markt fernzuhalten. Ist Sams Handlung erlaubt?
Angenommen Sam behauptet, sein schädlicher Zwang verletze Marvins Rechte nicht, weil dieser notwendig sei, um seine Tochter vor finanziellem Schaden zu bewahren. Sicherlich fällt diese Verteidigung durch. Das Recht eines Menschen, keinen schädlichen Zwang zu erleiden, lässt sich nicht so einfach vom Tisch wischen. Ähnlich ist es um das Ansinnen bestellt, Sams Handlung sei zwar eine Rechtsverletzung aber gerechtfertigt, weil das Interesse seiner Tochter, Geld zu sparen, Marvins Rechte verdränge. Niemand würde eine so klägliche Rechtfertigung akzeptieren.
Und das obschon eine Analogie zum gängigen wirtschaftlichen Argument für Einwanderungsbeschränkungen vorzuliegen scheint. Die Behauptung besteht anscheinend darin, dass wir berechtigterweise Menschen, von denen viele großer wirtschaftlicher Not entkommen wollen, gewaltsam den Zutritt zum amerikanischen Arbeitsmarkt verwehren dürfen, weil amerikanische Arbeiter durch den Wettbewerb unter Lohndruck geraten. Niemand behauptet, amerikanische Arbeiter würden annähernd in dem Maße benachteiligt wie Einwanderungswillige durch den gewaltsamen Ausschluss vom Markt. Dennoch nimmt man die Aussicht einer dezenten Senkung amerikanischer Löhne und einer Einschränkung von Beschäftigungsmöglichkeiten zum Grund, die Rechte bedürftiger Ausländer entweder außer Kraft zu setzen oder zu verdrängen. Das ethische Prinzip dafür müsste lauten, dass das Recht eines Menschen, von äußerst schädlichem Zwang verschont zu werden, gelegentlich durch den bloßen Umstand in Frage gestellt werden kann, dass dieser notwendig ist, um Dritte vor bescheidenen Einbußen durch Wettbewerb zu schützen. Wie unplausibel dieses Prinzip ist, zeigen die obigen Beispiele von Bob und Marvin.

3.2 Die Pflicht des Staates gegenüber seinen Bürgern

Vielleicht lassen sich Einwanderungsbeschränkungen rechtfertigen, wenn man an die besonderen Pflichten denkt, welche eine Regierung gegenüber ihrem eigenen Volk hat im Unterschied zu [440] Angehörigen fremder Staaten. Wenige bezweifeln, dass es solche Pflichten gibt. Staaten müssen ihren Bürgern Schutz vor Kriminellen und feindlichen ausländischen Regierungen gewähren. Einem Staat kommt keine gleichartige Pflicht zu, ausländische Bürger vor Kriminellen und anderen Regierungen zu schützen. Jene, welche dem Gesellschaftsvertrag der Herrschaftsgewalt beipflichten, können dies erklären, indem sie sich auf die Vorstellung berufen, dass wer kein Bürger eines bestimmten Staates ist, mit diesem auch unter keinem Gesellschaftsvertrag stehe. Der Staat habe daher nur die vertraglichen Pflichten gegenüber seinen Bürgern zu erfüllen, welche gegenüber Leuten, die nicht seine Bürger sind, nicht existierten.
Möglicherweise führt das zu einer Begründung für Einwanderungsbeschränkungen.[17] Vielleicht hat der Staat generell eine Pflicht, den Interessen seiner eigenen Bürger zu dienen einschließlich ihrer wirtschaftlichen Interessen, und keine solche Pflicht oder jedenfalls keine annähernd so starke Pflicht, die Interessen fremder Staatsangehöriger zu befördern. Dementsprechend muss der Staat sich auf die Seite seiner eigenen Bürger stellen, wenn die Interessen amerikanischer Bürger mit denen von Ausländern kollidieren, selbst wenn sich daraus eine Verringerung des weltweiten gesellschaftlichen Nutzwerts ergibt. Eine Begrenzung der Einwanderung in die Vereinigten Staaten läuft den Interessen der Einwanderungswilligen zuwider, doch weil diese Einwanderungswilligen momentan keine US-Bürger sind, hat die US-Regierung entweder keine Pflicht oder eine viel schwächere Pflicht, deren Interessen zu berücksichtigen im Vergleich zu denen ihrer eigenen Bürger. Vielleicht gewinnt dadurch das Argument an Zugkraft, dass amerikanische Arbeiter durch den Wettbewerb mit Einwanderern benachteiligt werden. Alternativ könnte man behaupten, dass Einwanderer den staatlichen Anbietern sozialer Leistungen finanzielle Lasten aufbürden – etwa dem Gesundheitswesen, den Schulen und der Strafverfolgung.[18] Weil diese Leistungen durch Einnahmen finanziert werden, die man den angestammten US-Bürgern abgenommen hat, gibt die Berücksichtigung von deren Interessen durch die Regierung vor, dass diese den Zuzug ins Land begrenzen muss.
Fangen wir mit der Beobachtung an, dass Einwanderung über den Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt amerikanische Arbeiter schlechter stellt. Zwei Hindernisse stehen der Auffassung entgegen, es handele sich um eine Rechtfertigung für Einwanderungsbeschränkungen, selbst wenn wir annehmen, der Staat sei dem Schutz der Interessen seiner eigenen Bürger viel stärker verpflichtet als denen anderer. Erstens erlitte nur ein Teil der derzeitigen Bürger durch erhöhte Einwanderung Nachteile – nämlich die Beschäftigten der Industriezweige, welche Einwanderer besonders anziehen. Dabei handelt es sich um einen vergleichsweise kleinen Anteil der Bevölkerung. Alle anderen derzeitigen Bürger spürten die Auswirkungen kaum oder profitierten sogar von der verstärkten Einwanderung. Wie bereits erwähnt [441] glauben die meisten Volkswirte, die wirtschaftlichen Folgen von Einwanderung für die derzeitigen Bürger seien insgesamt positiv. Wenn wir also nur die Interessen derzeitiger Bürger berücksichtigen, bleibt allenfalls unklar, ob Einwanderungsbeschränkungen von Vorteil sind. Messen wir auch den Interessen der Einwanderer selbst etwas Gewicht bei, scheint die Sache klar auf freie Einwanderung hinauszulaufen.
Zweitens bestehen einige Pflichten, welche jeder moralische Akteur anderen Menschen schon alleine dadurch schuldet, dass es sich um Menschen handelt. Die besondere Pflicht des Staates gegenüber seinen Bürgern, worin diese auch bestehen mag, beseitigt nicht die Pflicht, die Menschenrechte sonstiger Personen zu achten. Insbesondere lässt sich aus der Pflicht, die Interessen der eigenen Bürger besonders zu berücksichtigen, nicht ableiten, die Regierung sei berechtigt, sonstigen Personen gewaltsam schweres Leid aufzubürden, um den Bürgern geringfügige wirtschaftliche Vorteile zu sichern.
Nehmen wir wieder den Fall des hungernden Marvin. In der letzten Abwandlung der Geschichte hinderte Sam Marvin gewaltsam daran, den örtlichen Markt zu erreichen, mit der Begründung, dies sei notwendig, um seine Tochter davor zu bewahren, einen höheren Preis für Brot zahlen zu müssen als sonst. Diese Handlung erscheint nicht gerechtfertigt. Gelänge es Sam, sein Verhalten mit dem Hinweis zu rechtfertigen, er habe als Vater seiner Tochter gegenüber besondere Pflichten, welche beinhalten dass er ihren Interessen größeres Gewicht beimessen muss als denen von Leuten außerhalb der Familie? Die Prämisse trifft sicher zu. Für Eltern besteht eher eine noch stärkere und klarere Pflicht, die Interessen ihrer Sprösslinge zu schützen, als sie der Staat für die Interessen seiner Bürgern hat. Dadurch verlieren Personen außerhalb der Familie aber nicht das Recht, keinem schädlichen Zwang ausgesetzt zu werden. Die besondere Pflicht gegenüber dem eigenen Kind beinhaltet, das man ihm Nahrung geben soll, wenn man vor der Wahl steht, entweder dies zu tun oder jemandem außerhalb der Familie die Nahrung zu geben. Doch sie beinhaltet nicht, dass man ihn gewaltsam am Beschaffen von Nahrung hindern darf, nur um seinem eigenen Kind einen bescheidenen wirtschaftlichen Vorteil zu verschaffen.
Betrachten wir als nächstes den Vorwurf, Einwanderer stellten eine fiskalische Last dar, weil sie soziale Leistungen in Anspruch nehmen. Insgesamt zahlen Einwanderer geringfügig weniger Steuern ein, als sie an sozialen Leistungen beanspruchen.[19] Dies liegt hauptsächlich daran, dass Einwanderer eher unterdurchschnittliche Einkommen erzielen und daher verhältnismäßig wenig Steuern zahlen.[20] Einige Volkswirte glauben jedoch, dass verstärkte Einwanderung [442] auf lange Sicht (im Lauf von Jahrzehnten) eine insgesamt positive fiskalische Wirkung hätte.[21]
Angenommen Einwanderer stellten alles in allem eine fiskalische Last für den Staat dar. Würde diese Tatsache rechtfertigen, eine große Zahl von Einwanderungswilligen gewaltsam am Betreten des Landes zu hindern? Um dies zu beantworten, müssen wir zunächst einmal fragen, ob der Staat derzeit die Pflicht hat, für Einwanderungswillige soziale Leistungen zu erbringen, selbst wenn der Staat dabei unter dem Strich Verluste erleidet. Anhand einiger Theorien der Verteilungsgerechtigkeit ließe sich behaupten, für den Staat bestehe eine derartige Pflicht, obgleich diese Einwanderungswilligen derzeit keine Bürger sind.[22] Wenn dem so ist, darf der Staat offensichtlich Einwanderungswillige nicht ausschließen, um sich vor dieser Pflicht zu drücken.
Nehmen wir dagegen an, der Staat habe keine derartige Pflicht, Einwanderungswilligen soziale Leistungen zur Verfügung zu stellen, zumindest nicht ohne kostendeckende Gebühren. Träfe dies zu, wäre der Staat vielleicht berechtigt, Einwanderern Leistungen zu verwehren, sie höher zu besteuern oder ihnen für Leistungen Gebühren in Rechnung zu stellen. Es bleibt jedoch unplausibel, dass der Staat berechtigt wäre, Einwanderungswillige völlig aus seinem Hoheitsgebiet auszuschließen. Eine schädliche Gewaltanwendung lässt sich typischerweise nicht befriedigend mit dem Argument verteidigen, man müsse dem Gewaltopfer sonst aufgrund einer freiwillig übernommen Regelung einen Vorteil gewähren, den man aber nicht gewähren will.
Nehmen wir beispielsweise an, Sam betreibt einen Wohlfahrtsverband. Er hat sich dem Grundsatz verschrieben, allen Armen, die den örtlichen Markt erreichen, kostenlos Nahrung zu gewähren. Unglücklicherweise wird bei seinem Verband das Geld knapp, so dass Sam überlegt, wie er die Kosten senken kann. Als er erfährt, dass Marvin zum Markt läuft, um Lebensmittel zu kaufen, beschließt er, Marvin gewaltsam am Erreichen des Marktes zu hindern. Marvin ginge es besser, wenn man ihn zum Marktplatz ließe, selbst wenn es dort keine kostenlosen Lebensmittel gäbe, weil er mit seinen bescheidenen Mitteln immer noch ein paar billige Lebensmittel erstehen kann. Doch Sam hat sich bereits auf seinen Grundsatz festgelegt, allen Armen auf dem Markt kostenlos Lebensmittel anzubieten, so dass er Marvin eigentlich kostenlose Lebensmittel anbieten müsste, erreichte dieser den Markt. Ist es Sam erlaubt, Marvin gewaltsam schweres Leid aufzubürden, um zu vermeiden, dass er entweder seinen Grundsatz aufgeben oder Marvin kostenlos Nahrung geben muss?
Sicherlich nicht. Vielleicht wäre Sam berechtigt, seinen Grundsatz zu überarbeiten und Marvin kostenlose Nahrung zu verweigern, wenn er den Markt erreicht. Dies wäre unter der Voraussetzung erlaubt, dass Sam keine humanitäre Pflicht hat, Marvin zu helfen. Aber egal ob Sam eine solche humanitäre Pflicht hat oder nicht, hat er sicherlich kein Recht, Marvin aktiv an der Beschaffung seiner eigenen Nahrung zu hindern. Käme Marvin zum Markt, um [443] Sams Lebensmittel zu stehlen, dann wäre Sam berechtigt ihn auszuschließen. Selbst diese Behauptung wäre umstritten; wenn Marvins Notlage ausreichend dringlich wäre, würden einige sagen, Sam müsse ihn gewähren lassen. Doch wie immer man in dieser Frage denkt, kann Sam sicherlich nicht rechtfertigen, Marvin die Möglichkeit zu nehmen, Nahrung von anderen zu kaufen, bloß weil Sam – wenn er dies zuließe – ihm dann auch freiwillig etwas Nahrung geben würde.
Ich habe beide Möglichkeiten in Betracht gezogen, sowohl dass der Staat es Einwanderungswilligen schuldig ist, ihnen bei der Stillung ihrer Bedürfnisse zu helfen, als auch dass er keine solche Pflicht hat. Aber möglicherweise ist die Lage komplizierter. Vielleicht ist der Staat den Einwanderungswilligen derzeit keine Hilfe schuldig, doch falls und sobald sie Bewohner seines Hoheitsgebiets werden, schuldet er er ihnen daraufhin die Pflicht, ihnen dasselbe Leistungsniveau zukommen zu lassen wie seinen angestammten Bürgern. Wäre dem so, dann könnte der Staat seine finanziellen Interessen nicht in ethischer Weise schützen, indem er bei offenen Grenzen der Flut der Einwanderer schlicht ein niedrigeres Leistungsniveau zukommen lässt.
Beim Einschätzen dieser Ansicht müssen wir den Unterschied zwischen Einwohnern und Bürgern berücksichtigen. Es ist sehr viel plausibler, dass ein Staat verpflichtet ist, seinen Bürgern bei der Stillung ihrer Bedürfnisse zu helfen, als dass er verpflichtet ist, all seinen Einwohnern dabei zu helfen. Es ist daher nicht klar, dass der Gedanke aus dem vorigen Absatz eine Rechtfertigung dafür liefert, Ausländer davon abzuhalten, sich in den Vereinigten Staaten niederzulassen, statt lediglich dafür, ihnen die Einbürgerung zu verweigern. Nehmen wir gleichwohl an, ein Staat habe die Pflicht, allen Einwohnern dasselbe Leistungsniveau zu gewähren, sobald sie einmal im Land sind. Selbst wenn das bloße Bewohnen auf irgendeine Weise einen Anspruch auf das Leistungsniveau der angestammten Bürger schüfe, leuchtet nicht ein, dass dieser unveräußerlich sein sollte, also nicht freiwillig aufgegeben werden kann. Der Staat verfügt daher neben der Einwanderungsbeschränkung über zumindest einen weiteren Ansatz, seine finanziellen Interessen zu schützen. Dieser besteht darin, die rechtmäßige Ansiedlung oder Einbürgerung Einwanderungswilliger davon abhängig zu machen, dass diese den Verzicht auf ihr Recht erklären, bestimmte soziale Leistungen zu erhalten.[23] Alternativ dazu könnte der Staat von Neueinwanderern verlangen, sich höheren Steuersätzen zu unterwerfen, welche die erwarteten Staatsausgaben abdecken. Diese vorhandenen Alternativen untergraben jedwede finanzielle Rechtfertigung, welche man dem Staat plausibel dafür zugestehen könnte, dass er Einwanderungswillige [444] größtenteils aus dem Land aussperrt.
Die Zulässigkeit der im vorigen Absatz vorgeschlagenen Maßnahme könnte in Zweifel gezogen werden. Man könnte vorbringen, dass wenn Ausländer ein Recht auf Einwanderung haben, dann müsse der Staat ihnen die Ausübung dieses Rechts unabhängig davon gestatten, ob sie bereit sind, dafür andere Rechte aufzugeben (einschließlich der Rechte, welche ihnen künftig zustehen könnten). Dies mag zutreffen. Doch egal, ob dies zutrifft oder nicht, bleibt meine Überlegung aus dem vorigen Absatz gültig. Meine Behauptung bestand nämlich nicht darin, dass der Staat von Einwanderungswilligen tatsächlich verlangen soll, ihr (künftiges) Recht auf soziale Leistungen aufzugeben. Ich behaupte lediglich, dass der Staat Einwanderungswilligen nicht verbieten soll, das Land zu betreten, angesichts einer vorhandenen Alternative, welche dasselbe Ziel mit weniger Zwang und Schaden erreicht. Natürlich wäre denkbar, dass keine der Alternativen zulässig ist. Jedenfalls ist die Alternative unzulässig, welche mit unnötigem Zwang einhergeht. Überhaupt steht zur Diskussion, ob man schädlichen Zwang gegen Unschuldige ausüben darf, um die eigenen wirtschaftlichen Interessen zu schützen. Vielleicht sind Umstände denkbar, unter denen man das darf. Aber selbst wenn man dies darf, so darf man sicher nicht mehr schädlichen Zwang ausüben, als zur Erreichung des eigenen Ziels notwendig ist.

3.3 Vorrang für die am stärksten Benachteiligten

Einige glauben, der Staat solle dem Wohlergehen der am stärksten Benachteiligten in der Gesellschaft mehr Gewicht beimessen als dem anderer Gruppen. Angenommen diese Auffassung – nachfolgend „Vorrangsmeinung“ genannt – sei korrekt.[24] Was würde daraus für die Einwanderungsfrage folgen?
Joseph Carens meint, die Vorrangsmeinung stütze offene Grenzen zusätzlich. Dies liegt an Carens’ Auffassung, die Vorrangsmeinung solle grenzübergreifend angewendet werden. Viele der am stärksten benachteiligten Erdbewohner halten sich in fremden Ländern auf, und ihnen könnte mit einer offenen Grenzpolitik geholfen werden.[25] Andere Denker behaupten jedoch, einzelstaatliche Regierungen sollten die Vorrangsmeinung nur innerhalb der Grenzen ihres eigenen Volkes anwenden und somit den Interessen der am stärksten Benachteiligten unter ihren eigenen Bürgern Vorrang gewähren statt denen der am stärksten Benachteiligten der Erde.[26]
Warum mag die Anwendung der Vorrangsmeinung auf die Bürger der jeweiligen Regierung beschränkt sein? Michael Blake behauptet, die Verpflichtung zur Verteilungsgerechtigkeit erwachse [445] aus der Notwendigkeit, den Zwangscharakter eines sozialen Systems zu rechtfertigen. Infolgedessen gelte die Vorrangsmeinung nur in Bezug auf die Menschen, die dem Zwang des Staates unterworfen sind, was für ihn deckungsgleich mit den Bürgern des Staates ist.[27] Stephen Macedo behauptet, ein Staat habe eine Pflicht zur Verteilungsgerechtigkeit nur gegenüber jenen, die einem gemeinsamen Rechtssystem unterworfen sind. Überlegungen zur Verteilungsgerechtigkeit seien nicht grenzübergreifend gültig, weil Menschen verschiedener Länder nicht unter einem gemeinsamen Rechtssystem leben. Außerdem verursache Einwanderung wirtschaftliche Nachteile für die Mitglieder der einheimischen Bevölkerung, denen es bereits am schlechtesten geht. Dies liege daran, dass Einwanderer häufig um Arbeitsplätze konkurrieren, welche die geringste Qualifikation erfordern, und damit den Lohnsatz der am schlechtesten bezahlten Arbeiter weiter verringern. Der wirtschaftliche Gewinn für Verbraucher und Arbeitgeber mag größer sein als der wirtschaftliche Verlust für einheimische Arbeiter, doch der Staat solle den Interessen armer amerikanischer Arbeiter Vorrang gewähren sowohl gegenüber denen wohlhabenderer Amerikaner als auch denen der Einwanderungswilligen.[28] Daher stützt diese Variante der Vorrangsmeinung strikte Einwanderungsbeschränkungen.
Die Vorrangsmeinung selbst ist umstritten.[29] Aber selbst ohne die Gültigkeit der Vorrangsmeinung generell in Frage zu stellen, bleiben zwei Punkte auf sie zu erwidern.
Erstens rechtfertigt die Vorrangsmeinung, selbst wenn sie im Allgemeinen stimmt, nicht jedwede Art, auf die der Staat den Interessen seiner am stärksten benachteiligten Bürgern Vorrang gewährt. Wenn der Staat über Geldmittel für Ausgaben verfügt, sagt uns die Vorrangsmeinung, der Staat solle sie – ceteris paribus – ausgeben, um seinen ärmsten Bürgern zu helfen. Wenn die US-Regierung Lebensmittelhilfe verteilt, solle sie die Lebensmittel armen Amerikanern geben, bevor sie Amerikanern der Ober- und Mittelschicht Lebensmittel gibt. Wenn Macedo und Blake recht haben, sollte die Regierung ebenso armen Amerikanern Lebensmittel geben, bevor sie armen Ausländern Lebensmittel gibt. Aber selbst Anhänger der Vorrangsmeinung würden – glaube ich – typischerweise nicht vertreten, dass der Staat die Interessen seiner am stärksten benachteiligten Bürger befördern soll, indem er die Rechte von Ausländern verletzt. Nehmen wir beispielsweise an, die US-Regierung sei in der Lage, hungrigen Menschen, die in Afghanistan leben, ihre Lebensmittel zu stehlen, diese nach Amerika zu verschiffen und sie an arme Amerikaner zu verteilen. Nur sehr wenige, selbst unter den nationalistischen Egalitären, würden behaupten, der Staat sei dazu berechtigt. Oder nehmen wir an, die US-Regierung könne arme Afghanen übers Ohr hauen, indem sie ihnen Lebensmittel zum Kauf anbietet, [446] aber statt ihnen diese auszuhändigen, würde sie nur deren Geld nehmen und es armen Amerikanern geben. Oder nehmen wir zum Abschluss an, die US-Regierung könne afghanische Bürger töten, deren Organe verkaufen, und das Geld verwenden, um armen Amerikanern zu helfen. In all diesen Fällen würde die US-Regierung den Interessen ihrer ärmsten Bürger Vorrang vor denen von Ausländern geben. Aber vermutlich handelt es sich dabei nicht um gültige Anwendungen der Vorrangsmeinung. Ein plausibler Grund, aus welchem diese Anwendungen der Vorrangsmeinung nicht gültig sind, liegt darin, dass sie so verstanden werden muss, dass sie unter einer impliziten Einschränkung wirkt: Der Staat solle die Interessen seiner ärmsten Bürger befördern, jedoch ohne dabei die Rechte anderer zu verletzen. Wenn die Überlegung aus Abschnitt 2↑ stimmt, dann handelt es sich bei Einwanderungsbeschränkungen anscheinend (prima facie) um eine Verletzung der Rechte von Ausländern; sie lassen sich daher nicht unter Berufung auf die Vorrangsmeinung rechtfertigen. Selbstverständlich könnten wir noch auf besondere Begleitumstände stoßen, welche das Anscheinsrecht von Ausländern in dieser Angelegenheit entkräften oder verdrängen. An dieser Stelle kommt es nur darauf an, dass die Vorrangsmeinung uns nicht auf derlei Umstände hinweist: Wie die in diesem Absatz behandelten Beispiele zeigen, führt die Tatsache, dass eine bestimmte Handlung die Interessen der ärmsten Amerikaner befördern würde, nicht dazu, dass etwas, das sonst eine Verletzung der Rechte von Ausländern wäre, aufhört eine zu sein.
Eine zweite Entgegnung auf Macedo und Blake besteht in dem Argument, dass die Vorrangsmeinung – sofern sie zutrifft – doch auf Ausländer angewendet werden sollte. Dies wird klar, wenn wir Blakes Meinung bezüglich der Grundsätze der Verteilungsgerechtigkeit betrachten. Blake vertritt den Standpunkt, dass derlei Grundsätze für alle gelten, die staatlichem Zwang ausgesetzt sind. Bei allem Respekt Blake gegenüber beschränkt sich diese Gruppe nicht auf die Untertanen des Staates. Wie ich fleißig herausgestellt habe, stellen Einwanderungsbeschränkungen Zwang gegenüber Ausländern dar. Einwanderungswillige werden zwangsweise an der Einwanderung gehindert. Im Lichte von Blake höchstselbst schuldet der Staat diesen Menschen daher Rechenschaft für seine Zwangsmaßnahmen.[30] Wenn die Rechtfertigung behördlichen Zwangs – wie Blake meint – von einem hypothetischen Gesellschaftsvertrag zwischen allen Parteien, die staatlichem Zwang unterliegen, abgeleitet sein muss, dann müssen Ausländer in diesen Vertrag einbezogen werden. Wenn der Gesellschaftsvertrag einer Variante der Vorrangsmeinung bedarf, dann muss es sich dabei um eine grenzübergreifende Vorrangsmeinung handeln.
Marcedos Standpunkt ähnelt dem von Blake: Macedo vertritt die Ansicht, die Vorrangsmeinung ergebe sich aus einem Gesellschaftsvertrag, deren Parteien all jene sind, die einem gemeinsamen Rechtssystem unterliegen. Zugegeben unterliegen Ausländer sehr viel weniger dem US-Recht als es US-Bürger tun. Sie sind jedoch nicht völlig vom amerikanischen Recht ausgenommen. Insbesondere unterliegen Ausländer dem US-Einwanderungsrecht, welches die meisten daran hindert, in die Vereinigten Staaten einzuwandern. Macedo könnte einwenden, dass ihre Unterwerfung [447] unter dieses vergleichsweise beschränkte Gesetzeswerk, im Vergleich mit den viel umfangreicheren Gesetzeswerken von denen sie ausgenommen sind, nicht zur Aufnahme in den hypothetischen Gesellschaftsvertrag genüge. Dabei scheint es sich mir aber nicht um eine natürliche Auffassung zu handeln. Wenn Rechtssysteme eine Rechtfertigung verlangen, vielleicht aufgrund der Art, in welcher sie Personen zwangsweise Einschränkungen auferlegen, und wenn sie regelmäßig gegenüber all jenen zu rechtfertigen sein müssen, denen sie auferlegt werden, dann besteht die natürlichste Auffassung darin, dass selbst beschränkte Gesetzeswerke gegenüber all jenen zu rechtfertigen sind, denen diese auferlegt werden. Also sollten Einwanderungsgesetze sich gegenüber all jenen rechtfertigen lassen, die ihnen unterstehen, also allen Einwanderungswilligen. Es sieht nicht danach aus, dass Einwanderungswillige bei Aufnahme in den hypothetischen Gesellschaftsvertrag grundsätzlich zustimmen würden, zum Wohle einheimischer Bürger aus einem Land ausgeschlossen zu werden.

3.4 Bewahrung der Kultur

Nach Ansicht einiger Denker steht es einem Staat zu, den Zustrom von Einwanderern in sein Staatsgebiet zu begrenzen, um dadurch die kulturellen Eigenheiten seines Volkes zu bewahren.[31] Joseph Heath behauptet, Bürger hätten ein Interesse am Erhalt ihrer Kultur, weil diese ihnen bei der Bildung von Wertvorstellungen und der Lebensplanung hilft. Kämen zu viele Einwanderer aus anderen Kulturkreisen ins Land, so würden sie unsere Kultur zerstören; Heath glaubt also, wir hätten ein Recht auf Einwanderungsbeschränkung.[32] David Miller legt dar, dass es im Interesse der einheimischen Bürger liege, eine Steuerung der Weiterentwicklung ihrer Kultur anzustreben, und dies erfordere die Möglichkeit, äußere Einflüsse zu begrenzen; womit wir wieder bei einem Recht auf Einwanderungsbeschränkung angelangt wären.[33]
Um darin einen überzeugenden Grund für amerikanische Einwanderungsbeschränkungen zu erkennen, müssen wir zwei Prämissen zustimmen, von denen die eine empirisch ist und die andere ethisch. Die empirische Prämisse besagt, der amerikanischen Kultur drohe die Auslöschung oder zumindest eine schwere Deformation, wenn die Einwanderung nicht beschränkt wird. Die ethische Prämisse besagt, das Bedürfnis, die eigene Kultur zu bewahren, liefere eine gültige Rechtfertigung für den schädlichen Zwang, der mit Einwanderungsbeschränkungen einhergeht.
Beide Prämissen sind fraglich. Empirisch zweifelhaft ist, ob [448] die Sorge um den Untergang der amerikanischen Kultur gerechtfertigt ist. Weltweit zeitigten die amerikanische Kultur und die westliche Kultur im Allgemeinen eine Robustheit, welche eher zur Besorgnis hinsichtlich der Überlebensfähigkeit anderer Kulturen gegenüber westlichem Einfluss Anlass gibt als umgekehrt. Beispielsweise verkauft Coca-Cola seine Produkte derzeit weltweit in über 200 Ländern, wobei der durchschnittliche Konsum bei 18 Litern Cola pro Erdbewohner und Jahr liegt.[34] McDonald’s betreibt mehr als 32.000 Gaststätten in über 100 Ländern.[35] Bei den drei Filmen mit den weltweit höchsten Einspielergebnissen aller Zeiten handelt es sich um Avatar, Titanic und Der Herr der Ringe: Die Rückkehr des Königs. Alle drei wurden von amerikanischen Firmen produziert, aber 70 % der Einspielergebnisse wurden außerhalb der Vereinigten Staaten erzielt.[36] Für die Fernsehsendung Wer wird Millionär wurden Konzessionen in weltweit über 100 Länder vergeben – darunter so verschiedenartige Orte wie Japan, Nigeria, Venezuela und Afghanistan.[37] Ob man dieses Phänomen nun begrüßt oder nicht, hat die westliche Kultur jedenfalls eine bemerkenswerte Fähigkeit gezeigt, weltweit in einer großen Bandbreite von Gesellschaften Wurzeln zu schlagen – darunter auch solchen, die sich fast ausschließlich aus nicht-westlichen Bewohnern zusammensetzen. Diese Robustheit legt nahe, dass der amerikanischen Kultur in Amerika nicht die Auslöschung droht, selbst wenn Amerika seine Einwanderungsquote drastisch erhöhen sollte. Andere Gesellschaften haben Grund zur Sorge, ihre Kultur durch ausländischen Einfluss zu verlieren, Amerika jedoch nicht.
Kommen wir auf die ethische Prämisse des Arguments für Beschränkungen zu sprechen: Handelt es sich beim Wunsch nach Erhalt der amerikanischen Kultur um eine gültige Rechtfertigung für Einwanderungsbeschränkungen? Oder allgemeiner formuliert: Lässt sich schädlicher Zwang gegenüber anderen schon allein damit rechtfertigen, dass dieser notwendig ist, um jene davon abzuhalten, die Kultur der eigenen Gesellschaft zu verändern? Millers Haltung, dass Menschen ein starkes Interesse an der Steuerung ihrer Kultur haben, ist nachvollziehbar. Doch nicht alle eigenen Interessen [449] darf man ethisch dadurch absichern, dass man gegen andere schädlichen Zwang ausübt, selbst wenn dieser zum Schutz der eigenen Interessen notwendig sein sollte. Beispielsweise habe ich ein Interesse daran, dass mein Rasen gemäht wird, darf aber niemand dazu zwingen, ihn zu mähen, selbst wenn dies für mich die einzige Methode sein sollte, mit der ich das erwünschte Ergebnis erreichen kann. Selbst wenn man ein Recht auf etwas hat, ist es nicht immer zulässig, den Genuss des Rechts zu erzwingen. Angenommen ich benötige eine Lebertransplantation, für die keine freiwilligen Spender zur Verfügung stehen. Um mein Leben zu retten, müsste ich einem unwilligen Spender die Leber gewaltsam abnehmen. Obgleich ich sowohl ein starkes Interesse daran habe zu leben als auch ein Recht auf Leben, folgt daraus nicht, dass ich unwillige Spender zwingen darf.
Warum sollten wir dann annehmen, dass unser zugegebenermaßen starkes Interesse am Erhalt unserer Kultur uns dazu berechtigt, schädlichen Zwang gegen andere im Namen des Kulturerhalts auszuüben? Verfechter der kulturellen Bewahrung haben diese Frage vernachlässigt. Zwei hypothetische Beispiele helfen uns vielleicht dabei sie anzugehen.
Nehmen wir als erstes an, einige Ihrer Nachbarn sind zum Buddhismus übergetreten oder haben ihre Häuser an Buddhisten verkauft. Infolgedessen droht Ihr christlich geprägtes Viertel sich hin zu einem mit buddhistischer Prägung zu wandeln. Die Buddhisten stören die Ausübung Ihrer eigenen Religion nicht mit Gewalt und verletzen Ihre Rechte auch nicht auf andere Art; dennoch sind Sie gegen diesen Wandel, weil Sie es vorzögen, unter Christen zu leben. Wenn Sie den Vorgang rechtzeitig durchschauen, sind Sie dann ethisch zu Gewaltanwendung berechtigt, um ihre Nachbarn davon abzuhalten, Buddhisten zu werden? Betrachten wir einige Arten, auf die Sie die Sache in Angriff nehmen könnten. Sie könnten gewaltsam in die Religionsausübung ihrer Nachbarn eingreifen. Sie könnten in ihre Häuser eindringen, ihre Buddhastatuen zerstören und durch Kruzifixe ersetzen. Sie könnten Ihre Nachbarn zum Besuch christlicher Kirchen zwingen. Sie könnten alle Buddhisten gewaltsam aus dem Viertel vertreiben. Oder Sie könnten Buddhisten gewaltsam am Zuzug hindern. All diese Handlungen erscheinen unvertretbar. Kaum jemand würde dem Ansinnen zustimmen, Ihr Interesse am Erhalt eines christlich geprägten Viertels mache das Recht Ihrer Nachbarn, von Ihrem schädlichen Zwang verschont zu bleiben, nichtig bzw. verdränge es.
Welche Religion in einer Gesellschaft vorherrscht, hat neben anderen Faktoren einen erheblichen Anteil an deren Kultur. Hinsichtlich der anderen Faktoren lassen sich vergleichbare intuitive Überlegungen anstellen. Sie dürfen Ihre Nachbarn ebensowenig vom Gebrauch anderer Sprachen abhalten wie vom Tragen ungewöhnlicher Kleidung, dem Hören unvertrauter Musik usf. Dies legt nahe, dass der Schutz des eigenen Interesses am Kulturerhalt keine ausreichende Rechtfertigung für schädliche Zwangsausübung darstellt.
Betrachten wir zweitens eine weitere Abwandlung der Geschichte von Marvin. Stellen Sie sich erneut vor, dass Sam Marvin mit Gewalt daran gehindert hat, den örtlichen Markt zu erreichen, wo dieser die dringend benötigten Lebensmittel erstanden hätte. [450] Nachdem Sams bisherige Rechtfertigungen unhaltbar waren, erwähnt er einen weiteren Grund. Marvins Brauchtum weicht stark von dem der meisten anderen Menschen auf dem Markt ab. Beispielsweise kleidet er sich ungewöhnlich, gehört einer religiösen Minderheit an, spricht eine Sprache, welche die meisten anderen nicht kennen (obgleich er dadurch mit dem Kauf von Lebensmitteln nicht überfordert wäre) und hat einen stark abweichenden Kunstgeschmack. Sam treibt die Sorge um, Marvin könnte das Denken und Verhalten anderer auf dem Marktplatz beeinflussen, wenn er dort ankäme und sich mit Menschen austauschte. Er könnte beispielsweise andere zu seiner Religion bekehren oder mehr Menschen dazu veranlassen, seine Sprache zu sprechen. Weil Sam nicht will, dass dies geschieht, beschließt er, Marvin gewaltsam am Erreichen des Marktes zu hindern.
Sam hatte ein echtes Interesse daran, die Art von Veränderung zu verhindern, die Marvin möglicherweise angestoßen hätte. Die Frage ist, ob dieses Interesse von einer Natur ist, welche schädliche Gewaltanwendung gegen Unschuldige zur Wahrung desselben rechtfertigt. Intuitiv lautet die Antwort nein. Sams Wunsch, von Menschen umgeben zu sein, die ähnlich denken und handeln wie er, hebt nicht Marvins Recht auf, von schädlichem Zwang verschont zu werden.
Bildet dieser Fall eine angemessene Analogie zur Einwanderungsbeschränkung? Ein Unterschied besteht darin, dass es sich bei Marvin nur um eine einzelne Person handelt, und es wohl unwahrscheinlich ist, dass er im Alleingang einen dramatischen Kulturwandel in Sams Gesellschaft herbeiführt. Wenn im Unterschied dazu die Vereinigen Staaten ihre Grenzen öffneten, strömten Millionen herein, was sehr viel eher zu einem drastischen Kulturwandel führen könnte.
Dieser Unterschied zwischen den Fällen erschütterte mein Argument, wenn der Grund, aus dem Sams Handlung unzulässig war, darin gelegen hätte, dass Marvin tatsächlich nicht die Auswirkung herbeiführen würde, die Sam befürchtet. Doch das trifft nicht zu. Bei meinen beiden Beispielen sollte man unterstellen, dass die Befürchtung des Akteurs realistisch ist: Im ersten Beispiel haben Sie die wohlbegründete Befürchtung, Ihr Viertel werde buddhistisch; im zweiten Beispiel hatte Sam die wohlbegründete Befürchtung, dass Marvin einen großen Einfluss auf die Leute auf dem Markt ausübt. (Vielleicht ist der Markt so klein, dass ein einzelner Mensch ihn erheblich beeinflusst.) Meine Behauptung in Bezug auf die Beispiele besteht nicht darin, dass kein kultureller Wandel stattfände, sondern darin dass die Vermeidung kulturellen Wandels anscheinend keine angemessene Rechtfertigung dafür ist, schädlichen Zwang auf Unschuldige auszuüben.

3.5 Die Einwanderungsflut und der Zusammenbruch Amerikas

Der letzte Grund für Beschränkungen, den wir in Betracht ziehen müssen, beruft sich auf die katastrophalen Folgen, welche sich angeblich aus der Flutwelle von Einwanderern ergeben, die Amerika überrollte, würden die Grenzen geöffnet. Brian Barry meint, dass mindestens eine Milliarde Einwanderer nach [451] Amerika schwappten, wenn man sie ließe. Die Folgen wären starke Übervölkerung, der Zusammenbruch staatlicher sozialer Leistungen einschließlich des Schul- und Gesundheitswesens, gewaltsame ethnische Konflikte, der Zusammenbruch der freiheitlichen Demokratie, Umweltzerstörung und ein Absinken des US-Lebensstandards auf das Niveau der Dritten Welt.[38]
Jede dieser Vorhersagen wäre eine eigene längere Diskussion Wert, die aus Platzgründen nicht möglich ist. Hier kann ich lediglich ein paar Bemerkungen zu Barrys Sorgen anbringen. Betrachten wir als erstes Barrys Vorhersage von einer Milliarde Einwanderern, die in die Vereinigten Staaten kommen. Obgleich er dies für eine „sicherlich … recht konservative Schätzung“ hält,[39] erscheint diese Schätzung alles andere als konservativ. Barry stützt seine Schätzung auf die Annahme, dass jemand sein Heimatland verlässt, wann immer „zumindest ein anderer Ort vorhanden ist, dessen materieller Lebensstandard die kulturellen Unterschiede zwischen den beiden Orten aufwiegt“. Barry beziffert die Zahl der Menschen weltweit auf mindestens eine Milliarde, deren materieller Lebensstandard sehr viel niedriger liegt, als er es in den V. S. wäre, so dass der Nachteil der kulturellen Unterschiede zwischen den Gesellschaften damit ausgeglichen wäre.
Doch in der Praxis zögern die meisten Leute eher mit einem Umzug, als Barrys Anmerkungen es nahelegen. Obwohl dem Umzug zwischen US-Städten und -Staaten keine rechtlichen Hürden im Weg stehen, haben 57 % der Amerikaner nie außerhalb des Staates gewohnt, in dem sie sich befinden, und 37 % haben nie außerhalb der Stadt gewohnt, in der sie geboren wurden.[40] Es ist wohl unwahrscheinlich, dass dies daran liegt, dass eine so große Zahl von Amerikanern in der Stadt geboren wurde, die ihnen die besten wirtschaftlichen Aussichten von allen Städten des Landes bietet; und wohl noch unwahrscheinlicher, wenn man in Betracht zieht, dass die im ländlichen Raum Geborenen mit ihren eher eingeschränkten Berufsaussichten am seltensten wegziehen. Und diese Amerikaner erlitten wohl auch keinen Kulturschock, wenn sie Heimatstadt oder -staat verließen. Stattdessen nennen die meisten, die ihrem Ort treu geblieben sind, familiäre Gründe dafür, dass sie nicht wegziehen. Jemand der seine Heimatstadt verlässt, lässt dabei im allgemeinen Nachbarn, Freunde und Familie (einschließlich Großfamilie) zurück. Diese sind den meisten Menschen äußerst wichtig. Hinzu kommt, dass die meisten seelisch an dem Ort hängen, an dem sie geboren und aufgewachsen sind. Bei den meisten zeigt sich auch eine gewisse Trägheit: Sie behalten nicht ständig alle Lebenswege im Blick, die ihnen offen stehen, [452] in der Bereitschaft einen Neuen einzuschlagen, sobald dieser mehr Erfolg verspricht; vielmehr behalten sie ihren bisherigen Weg bei, bis sie etwas aus der Bahn bringt. Dabei handelt es sich um die Hauptgründe, aus denen Amerikaner nicht innerhalb des Landes umziehen. Für Ausländer gälten dieselben Gründe. Doch im Falle von Leuten, die erwägen in ein anderes Land zu ziehen, fielen familiäre Gründe stärker ins Gewicht als bei Menschen, die einen Umzug innerhalb der Vereinigten Staaten erwägen, weil ein Familienbesuch über Landesgrenzen hinweg beschwerlicher ist als einer, zu welchem die Teilnehmer innerhalb eines Bundesstaates oder innerhalb der USA anreisen. Bei Ausländern sprechen weitere Gründe gegen einen Umzug nach Amerika, die sich aus sprachlichen und kulturellen Barrieren ergeben sowie der Treue, welche die meisten gegenüber ihrem Vaterland empfinden.
Zu der Frage lassen sich einige empirische Belege anbringen. Berichten zufolge stehen beim US-Außenministerium vier Millionen Anwärter auf ein Einwanderungsvisum auf der Warteliste.[41] Zusätzlich führt das Außenministerium jährlich eine Verlosung durch, bekannt als „Visavielfaltsverlosung“, bei der 50.000 Green-Cards vergeben werden. Menschen aus aller Herren Ländern, ausgenommen die zwanzig Länder mit den höchsten Auswanderungsraten in die V. S., sind teilnahmeberechtigt (die Absicht dahinter ist, die Vielfalt der Einwanderungsgruppen zu erhöhen). Im Jahre 2009 nahmen 9,1 Millionen Menschen teil. In der Erwartung, dass nur ein Teil der Ausgelosten tatsächlich kommt, loste das Außenministerium ca. 100.000 Menschen aus, um sie zur Weiterverfolgung ihres Antrages aufzufordern.[42] Die 9,1 Millionen Antragssteller machen ca. 0,3 % der Gesamtbevölkerung der zugelassenen Länder aus.[43] Es gibt also derzeit ungefähr 13 Millionen Menschen, die außerhalb der Vereinigten Staaten leben und zumindest einen gewissen Aufwand betrieben haben, um legal in die V. S. ziehen zu können. All das verschafft uns nur eine wage Schätzgrundlage dafür, wie viele Menschen bei offenen Grenzen in die Vereinigten Staaten kämen (u. a. könnten viele den Versuch in dem Glauben gescheut haben, dass ihnen die Einwanderung nicht gestattet wird). Gleichwohl legen diese Fakten nahe, dass Barry die Umzugsbereitschaft der Menschen überschätzt, und seine Schätzung von einer Milliarde [453] Einwanderern wohl um ein oder zwei Größenordnung daneben liegt.[44]
Neben seiner Überschätzung des Einwanderungspotentials hat Barry womöglich das Eingliederungsvermögen der V. S. unterschätzt. Im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung sind die V. S. schon mit weitaus höheren Einwanderungsraten zurechtgekommen, als wir sie derzeit haben.[45] Obschon Barry sich wegen einer Übervölkerung Sorgen macht, scheinen die V. S. vielen weiteren Menschen Platz zu bieten. Die Bevölkerungsdichte der Vereinigten Staaten betrug im Jahre 2009 etwa 34 Einwohner pro Quadratkilometer verglichen mit dem weltweiten Durchschnitt von 45 pro Quadratkilometer und 144 pro Quadratkilometer in China [sowie 235 pro Quadratkilometer in Deutschland, A. d. Ü.].[46] Dies legt zumindest nahe, dass uns das Land nicht so bald ausgeht.
Meines Erachtens malt Barrys die Auswirkungen unbeschränkter Einwanderung allzu schwarz. Was mich betrifft, kann ich jedoch wenig mehr bieten als eine weitere Mutmaßung. Niemand kennt alle Auswirkungen einer offenen Grenzpolitik, da es lange her ist, dass die Grenzen der V. S. offen waren. Vielleicht hat Barry recht damit, dass die Folgen für die amerikanische Gesellschaft verheerend wären. Träfe dies zu, so könnte man argumentieren, dass es sich dabei um die Art äußerst negativer Konsequenzen handele, [454] welche das Recht Einwanderungswilliger auf Freizügigkeit verdrängt. Wie ich oben ausgeführt habe, ist es nicht plausibel, dass die Rechte Einwanderungswilliger durch vergleichsweise schwache Beweggründe verdrängt werden wie etwa bescheidene wirtschaftliche Nachteile für amerikanische Arbeiter oder der Abneigung einiger Amerikaner gegen kulturellen Wandel; es ist jedoch plausibel, dass die Rechte Einwanderungswilliger durch die Notwendigkeit verdrängt werden, die amerikanische Gesellschaft vor solchen Verheerungen zu bewahren, wie Barry sie an die Wand malt.
Daher gestehe ich zu, dass die Politik sich offenen Grenzen vielleicht klugerweise nur schrittweise nähern sollte. Die Vereinigten Staaten könnten beispielsweise die Zuwanderung jährlich um eine weitere Million Menschen erhöhen, solange bis jeder Einwanderungswillige ins Land gelassen wird, oder ernsthaft schädliche Auswirkungen erkennbar werden. Ich glaube und hoffe, dass der erstgenannte Fall zuerst eintritt. Träte jedoch der letztgenannte Fall ein, könnten wir daraufhin die Zuwanderungsrate einfrieren oder drosseln.
Kommen wir nun zur Zusammenfassung dieses Abschnitts, in welchem wir die bekanntesten Gründe für Einwanderungsbeschränkungen geprüft haben. Sie beinhalten die Sorge, Einwanderer schadeten armen Amerikanern über den Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt, sie belasteten den Sozialstaat, sie bedrohten unsere Kultur, und Heerscharen von Einwanderern könnten zum Zusammenbruch der amerikanischen Gesellschaft als Ganzes führen. Zwar gibt jede dieser Sorgen einen gewissen Anlass für Beschränkungen ab, doch die entscheidende Frage lautet, ob eine davon als angemessene Rechtfertigung für den schädlichen Zwang taugt, der mit derartigen Beschränkungen einhergeht. In den meisten Fällen ist die Antwort ein klares Nein. Dies lässt sich am einfachsten erkennen, indem man einfachere und weniger umstrittene Fälle betrachtet, bei denen eine Einzelperson gleich gelagerten schädlichen Zwang aus ähnlichen Gründen ausübt. So darf Sam anscheinend Marvin nicht mit Gewalt am Erreichen des Marktes hindern, bloß weil Marvin in wirtschaftlichen Wettbewerb mit seiner Tochter träte. Dies ist der Fall, obgleich Sam seiner Tochter gegenüber eine besondere Verpflichtung hat, welche von ihm in vielen anderen Situationen fordert, ihren Interessen Vorrang gegenüber denen von Leuten außerhalb der Familie zu geben. Sam darf Marvin auch nicht mit Gewalt daran hindern, (friedlich) einen Wandel der Sprache auf dem Marktplatz anzustoßen oder einen der Religion, welche die dortigen Händler praktizieren, oder einen anderer gesellschaftlicher Bräuche. Die einzige Sorge, welche plausibel zur Rechtfertigung von Einwanderungsbeschränkungen dienen könnte, so sie denn wohlbegründet ist, besteht darin, dass Heerscharen von Einwanderern die amerikanische Gesellschaft gewissermaßen zusammenbrechen lassen. Diese Sorge ist zugleich die spekulativste und fragwürdigste. Doch falls sie berechtigt wäre, rechtfertigte sie eine gewisse Begrenzung der Zuwanderungsrate, wenn auch auf einem viel höheren Niveau als derzeit. Das Fazit lautet, dass die Verfechter einer Beschränkung größtenteils nicht die Beweislast schultern konnten, welche ihnen zur Rechtfertigung des schädlichen Zwangscharakters der von ihnen empfohlenen Maßnahmen obliegt, und dass die Achtung vor den Rechten des Einzelnen eine weitaus freizügigere Einwanderungspolitik fordert. [455] Jene verhinderten Einwanderer, welche von Amerika abgewiesen wurden, erlitten dadurch so gut wie sicher eine schlimme Verletzung ihrer Rechte.

4 Das Recht auf Beschränkung: Club USA

Wir haben nun das Hauptargument für das Recht auf Einwanderung abgeschlossen. Doch einige Philosophen haben Argumente vorgebracht, die unabhängig von jedem speziellen Grund zugunsten einer Beschränkung sind und zu dem Schluss kommen, der Staat habe das Recht, Einwanderung zu beschränken. Das beliebteste derartige Argument basiert auf einer Analogie zwischen Staatsangehörigkeit und Mitgliedschaft in anderen Arten von Organisationen.
Im Allgemeinen kann ein privater Club beschließen, diejenigen auszusperren, die er nicht als Mitglieder haben will, selbst wenn der Club keinen belastbaren Grund dafür hat. Angenommen Sam, Betty und Mike gründen einen privaten Club, um am Wochenende über Philosophie zu diskutieren. Marvin beantragt die Aufnahme. Ohne besonderen Grund entscheiden Sam, Betty und Mike, dass ihnen nicht an der Gesellschaft von Marvin gelegen ist, und lehnen ihn daher ab. Marvin mag versuchen, sie zur Änderung ihrer Meinung zu überreden, doch er kann sich nicht über ein Unrecht oder eine Rechtsverletzung beklagen, wenn er nicht zu den Zusammenkünften eingeladen wird.
Einige meinen, ein Nationalstaat sei in dieser Hinsicht mit einem privaten Club vergleichbar: Ein Staat könne ebenfalls nach eigenem Gutdünken ungewollte Beitrittswillige aussperren, selbst wenn er keinen belastbaren Grund dafür hat, sie nicht aufnehmen zu wollen.[47] Da die meisten Amerikaner nicht alle Beitrittswilligen wollen, die im Falle offener Grenzen vermutlich einträfen, sei Amerika berechtigt, die meisten dieser Leute auszusperren.
Gegen diese Überlegung sprechen mindestens zwei wichtige Einwände. Der erste liegt darin, dass einige wichtige Unterschiede zwischen einem Staat und einem privaten Club der oben vorgestellten Art bestehen, und einigen davon genug moralische Bedeutung zukommen mag, um die Analogie zu untergraben.[48] Im Falle von Staaten wird jedermann dazu genötigt, der Bürger von mindestens einem zu sein – keinem steht es frei, sich schlicht gar keinem Staat anzuschließen. Hinzu kommt, dass diese Staaten äußerst wichtige Dienste bereitstellen, aber manche Staaten [456] anderen stark überlegen sind, so dass Menschen, welche diesen schlechteren Staaten angehören, wahrscheinlich unter schlimmer und lebenslanger Entbehrung und Unterdrückung leiden. Schlussendlich ist die Aussperrung aus einem Land im Allgemeinen auch mit dem Ausschluss aus einer breiten Palette von Interaktionen mit den Bürgern des jeweiligen Landes verbunden. Keiner dieser Sachverhalte trifft typischerweise auf private Clubs zu. Beispielsweise ist niemand dazu gezwungen, einem philosophischen Diskussionsclub anzugehören. Philosophische Diskussionsclubs stellen bei all ihrem Nutzen keine Dienste bereit, die jeder benötigt, um ein annehmbares Leben zu führen, und jene, welche minderwertigen philosophischen Diskussionsclubs angehören, sind auch nicht zu lebenslanger Entbehrung und Unterdrückung verdammt. Schlussendlich ist jemand, der aus einem philosophischen Diskussionsclub ausgesperrt ist, dadurch nicht von einer breiten Palette von geschäftlichen und gesellschaftlichen Interaktionen mit den Clubmitgliedern ausgeschlossen. Er kann sie immer noch einzeln aufsuchen, sie anstellen, sich von ihnen anstellen lassen, usw.
Angesichts dieser wichtigen Unterschiede können wir ein weiteres Szenario entwickeln, bei dem die Analogie zur Regierungsgewalt über die Staatsbürgerschaft stimmiger ist. Stellen Sie sich eine Insel vor, auf der jeder Mensch einem von mehreren „Wasserclubs“ angehört. Die Wasserclubs beschaffen ihren Mitgliedern Wasser, und das gesamte Wasser auf der Insel (einschließlich des Regens) untersteht den Clubs. Jedermann muss mindestens einem Club angehören, und niemand kann an den Clubs vorbei Wasser beschaffen. Außerdem verwalten einige Clubs ihr Wasser sehr viel besser oder haben schlicht mehr und hochwertigeres Wasser unter ihrer Kontrolle als andere. Demzufolge leiden viele Menschen auf der Insel unter ständigem Durst und an Krankheiten, die sie sich mit dem Trinkwasser einhandeln. Viele dieser Menschen versuchen, sich besseren Wasserclubs anzuschließen, doch die bessergestellten Mitglieder jener Clubs verweigern ihnen die Aufnahme. Einige Mitglieder der Wasserclubs mit guter Wasserqualität wollen die stärker benachteiligten und durstigeren Menschen aufnehmen, werden aber von den anderen Mitgliedern überstimmt. Außerdem regeln diese besser gestellten Wasserclubs in ihrer Satzung, dass ihre Mitglieder kein Wasser an durstige Menschen außerhalb des Clubs abgeben dürfen und noch nicht einmal Umgang mit ihnen pflegen oder Geschäfte machen dürfen. Diese Regeln werden unter Androhung von Gewalt durchgesetzt.
Das vorige Szenario stellt eine stimmigere Analogie zur Einwanderungspolitik der US-Regierung dar als das Beispiel mit dem philosophischen Wochenenddiskussionsclub. Bei der Wasserclubgeschichte haben die jeweiligen Clubs lebenswichtige Güter in ihrer Gewalt, die jedermann benötigt; jeder ist gezwungen, einem Club anzugehören; für jene, die einem minderwertigen Club angehören, ist dies mit schlimmen Entbehrungen verbunden; und jene, die aus einem Club ausgeschlossen sind, sind dadurch auch von einer breiten Palette von Geschäfts- und Gesellschaftsbeziehungen mit allen Mitgliedern dieses Clubs ausgeschlossen. In all diesen Aspekten ähneln Wasserclubs Regierungen im Unterschied zum philosophischen Diskussionsclub. Und während der philosophische Diskussionsclub anscheinend im Rahmen seiner Rechte ungewollte Beitrittswillige aussperrt, erscheint mir sehr viel fragwürdiger, dass die Wasserclubs mit guter Wasserqualität im Beispiel ethisch dazu berechtigt sind, durstige und vom Schicksal benachteiligte Menschen auszusperren.
[457] Dies ist ein Grund, aus dem die Analogie zu privaten Clubs nicht den angestrebten Schluss zulässt. Beim zweiten Einwand handelt es sich um einen Widerspruchsbeweis: Wenn die Privatclub-Analogie zeigen kann, dass Ausländer kein Recht auf Einwanderung in die Vereinigten Staaten haben, und Staaten das Recht haben, Kontrolle über die Mitgliedschaft auszuüben, dann lassen sich ähnliche Argumente dafür aufstellen, dass Menschen überhaupt kaum Rechte haben, und Staaten ein nahezu unbeschränktes Recht haben, Zwang auf ihre Mitglieder auszuüben. Die Verfechter der Club-Analogie müssten bejahen, dass ein Staat Forderungen an seine Bürger stellen darf, welche vergleichbar mit denen sind, die ein privater Club aufstellen darf.
Natürlich muss ein Verfechter der Clubanalogie zunächst nicht einräumen, dass der Staat alle Dinge tun darf, die ein privater Club tun darf. Doch er ist darauf festgelegt zu bejahen, dass Staaten über dieselbe Art Recht einer Kontrolle der Bedingungen für die Staatsbürgerschaft verfügen, wie es private Clubs hinsichtlich ihrer Aufnahmebedingungen haben, da es sich dabei um den Angelpunkt der Analogie handelt. Und die Rechte privater Clubs gehen in dieser Hinsicht sehr weit. Ein privater Club handelt selbst dann innerhalb des Rahmens seiner Rechte, wenn er beschwerliche, unkluge und unzumutbare Bedingungen aufstellt (jedoch keine sittenwidrigen Bedingungen). Ich könnte also, wenn ich wollte, einen Club für Leute gründen, die sich weigern, Gemüse zu essen, und jeden Monat 1.000 $ die Toilette hinunterspülen (aber ich darf keinen Club für Mörder gründen). Ich darf niemanden zwingen, meinem Club beizutreten, doch sobald Leute eingetreten sind, begehe ich kein Unrecht, indem ich von ihnen das Hinunterspülen von Geld und den Verzicht auf Gemüse fordere. Ob ich die Mitglieder dafür bestrafen darf, dass sie ihren Lebenswandel nicht an die Satzung anpassen, ist stärker umstritten, doch ich kann zumindest verlangen, dass sie entweder die Strafe auf sich nehmen oder aus dem Club austreten. Gleichermaßen können die Vereinsmitglieder (im Rahmen der entsprechenden Satzungsregelungen) über Satzungsänderungen abstimmen. Ein Club, der als philosophischer Diskussionsclub gegründet wurde, kann zu einem Club für Gemüseverächter werden, vorausgesetzt die Änderung erfolgt satzungsgemäß. Wiederum kann der Club verlangen, dass alle Mitglieder sich entweder an die Regelung halten oder austreten.
Gemäß der Analogie zwischen Clubs und Staaten könnte also ein Staat verlangen, dass alle Bürger vom Verzehr von Gemüse absehen (oder aber ihre Staatsbürgerschaft aufgeben), vorausgesetzt diese Regelung wurde im Rahmen eines ordnungsgemäßen Gesetzgebungsverfahrens erlassen. Einige Leser mag dieses Ergebnis nicht sonderlich beunruhigen. Doch betrachten wir einige der gültigen Bedingungen für die Mitgliedschaft in einem privaten Club. Ich könnte, wenn ich wollte, einen Club für Menschen gründen, die ihren linken Arm abtrennen; oder für solche, die als Frauen [458] Wahlen fernblieben; oder für Leute, die davon absehen, politische Meinungen zu äußern. Wiederum könnte ich niemand dazu zwingen, diesen Clubs beizutreten; doch ich könnte verlangen, dass Mitglieder entweder austreten oder sich an die Statuten des Clubs halten. Stützen wir uns auf die Analogie zwischen Staaten und Clubs, dann könnte ein Staat von seinen Bürgern verlangen, dass diese ihren linken Arm abtrennen, von politischen Meinungsäußerungen absehen, nicht zur Wahl gehen, sofern es sich um Frauen handelt, usw. Was immer ein Gesetz verlangt, man könnte seine Einhaltung als Bedingung für die Mitgliedschaft in der Zivilgesellschaft hinstellen. Der Staat kann also verlangen, dass jeder, der seine Staatsbürgerschaft behalten will, diese Gesetze einhält.
Offensichtlich ist an diesem Argument etwas faul. Der Staat hat kein Recht, von seinen Bürgern die Abtrennung ihres linken Arms zu fordern oder Frauen das Wählen zu verbieten oder politische Meinungsäußerungen zu verbieten. Die Überlegung, die zu diesen unplausiblen Folgerungen führt, beruht hauptsächlich auf zwei Prämissen: zum einen darauf, dass der Staat über dieselbe Art von Recht zur Kontrolle der Mitgliedschaft verfügt wie ein privater Club; und zum anderen darauf, dass ein privater Club die eben genannten Bedingungen an die Mitgliedschaft knüpfen kann. Die erste der beiden Prämissen ist fraglicher und sollte von uns verworfen werden. Vielleicht stammt diese Asymmetrie zwischen Staaten und Clubs von einem der Unterschiede, die zuvor in diesem Abschnitt in Bezug auf Staaten und die meisten privaten Clubs genannt wurden. Möglicherweise besteht aber auch irgendein anderer wichtiger Unterschied, der bislang übersehen wurde. Jedenfalls untergräbt die Tatsache, dass Staaten nicht über denselben Spielraum bei der Aufstellung von Bedingungen für die Staatsbürgerschaft verfügen, wie dies private Clubs in Bezug auf Mitgliedschaftsbedingungen tun, den Beweis für die Behauptung, Staaten hätten ein Recht, die Einwanderung zu beschränken. Die Analogie zu privaten Clubs liefert keinen guten Grund zu dem Schluss, Staaten verfügten über ein derartiges Recht.

5 Fazit

Die Beweisführung dieses Aufsatzes verlief im Wesentlichen so:
  1. Menschen haben ein Anscheinsrecht auf Einwanderung (d. h. ein Recht darauf, nicht am Einwandern gehindert zu werden). Die Begründung dafür lautet:
    1. Menschen haben ein Anscheinsrecht, von schädlichem Zwang verschont zu bleiben.
    2. Einwanderungsbeschränkungen sind schädlich und mit Zwang verbunden.
  2. Das Anscheinsrecht auf Einwanderung wird nicht verdrängt. Im Einzelnen:
    1. Die Folgen der Einwanderung auf den Arbeitsmarkt verdrängen es nicht.
    2. Die fiskalische Last, soziale Dienste für Einwanderer bereitzustellen, verdrängt es nicht.
    3. Weder die besondere Verpflichtung des Staates seinen Bürgern gegenüber im Allgemeinen noch gegenüber seinen ärmsten Bürgern im Besonderen verdrängt es.
    4. Die Bedrohung der Kultur eines Landes durch Einwanderer verdrängt es nicht.
  3. Daher handelt es sich bei Einwanderungsbeschränkungen um verwerfliche Rechtsverletzungen.
In diesem letzten Abschnitt würde ich mich gerne dazu äußern, wie mein Argument sich zu anderen einschlägigen Argumenten verhält sowohl zu solchen aus dem landläufigen Diskurs [459] als auch solchen aus der wissenschaftlichen Literatur; des Weiteren, warum die Mehrheit der Bürger an der Unterstützung sehr strikter Einwanderungsregeln festhält; und schließlich, warum es sich bei der Einwanderungsfrage um eine der derzeit wichtigsten politischen Fragen handelt.
Im landläufigen Diskurs handelt es sich bei den meisten Argumenten zur Einwanderung um beschränkt Konsequentialistische, d. h. konsequentialistische Argumente, bei welchen sich das Augenmerk auf die Folgen für einheimische Bürger beschränkt. Einwanderungsgegner behaupten typischerweise, Einwanderer schadeten einheimischen Arbeitskräften, wogegen Verfechter freiheitlicherer Einwanderungsregelungen behaupten, Einwanderer seien für die heimische Wirtschaft ein Segen. Beide Seiten lassen gemeinhin das Wohlergehen der Einwanderer selbst außer Acht, als spielten diese keine Rolle, ebenso lassen sie jegliche Fragen des Rechts und der Gerechtigkeit abseits wirtschaftlicher Folgen außer Acht. Als Gegenpol zu diesem erbärmlich oberflächlichen Diskurs habe ich in diesem Aufsatz versucht, die Aufmerksamkeit auf die Rechte der Einwanderungswilligen zu lenken und auf die moralische Tragweite schädlicher Beschränkungen, die Menschen gewaltsam auferlegt werden.
In der wissenschaftlichen Fachliteratur übergehen viele Argumente zur Verteidigung der Beschränkung in ähnlicher Weise die Rechte Einwanderungswilliger und die moralische Tragweite von Zwang und nehmen stattdessen die Interessen der einheimischen Bürger in den Blick.[49] Dies trifft beispielsweise zu, wenn Verteidiger der Beschränkung darlegen, dass die Bürger ein Interesse daran haben, kulturell die Oberhand in ihrer Gesellschaft zu behalten, oder dass arme Bürger Interesse an einer Begrenzung des Wettbewerbs auf dem Arbeitsmarkt haben, ohne sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob die Beförderung derartiger Interessen schädlichen Zwang gegen Unschuldige rechtfertigt. Diejenigen, welche auf die Frage nach den Rechten von Einwanderern eingehen, behandeln das Problem im Sinne eines Rechts auf Freizügigkeit und/oder im Sinne von Rechten im Bezug auf Verteilungsgerechtigkeit.[50] Ich habe mich auf ein einfacheres und allgemeineres Recht konzentriert – nämlich das Recht, von schädlichem Zwang verschont zu werden.
Die akademische Diskussion ist überwiegend theorielastig: Die Autoren behandeln Folgerungen für die Einwanderungspolitik, welche sich aus irgendeiner allgemeinen philosophischen Theorie oder Weltanschauung ergeben. Beispielsweise geht Kershnar von einer herkömmlichen Theorie des Gesellschaftsvertrags aus. Blake und Macedo gehen jeweils [460] von einem hypothetischen Gesellschaftsvertrag nach Rawls aus, welcher zum Differenzprinzip führt. Weitere Autoren untersuchen die Folgerungen aus egalitärem Liberalismus, Liberalismus im Allgemeinen, dem Libertarismus sowie dem Utilitarismus.[51] Wie eingangs erwähnt, glaube ich nicht, dass eine dieser Theorien sich durchgesetzt hat. Ich habe mich daher daran gemacht, eine Position auf allgemein nachvollziehbare Intuition zu bestimmten Fallkonstellationen zu stützen. Diese Intuition ist nicht weltanschaulich umstritten, man würde beispielsweise nicht erwarten, dass Sozialdemokraten und Konservative sich darüber streiten, ob es zulässig ist, einen Hungernden gewaltsam daran zu hindern, zu einem Markt zu gelangen, um dort Nahrung zu kaufen. Das Argument für unbeschränkte Einwanderung sollte nahezu jeden überzeugen unabhängig von seiner Weltanschauung.
Wie kommt es dann, dass die meisten Bürger westlicher Demokratien gegen die Öffnung ihrer Grenzen sind? Meiner Meinung nach besteht die beste Erklärung darin, dass die meisten unter uns einer Voreingenommenheit unterliegen, welche sie die Rechte und Interessen von Ausländern allzu leicht übersehen lässt. Rassische Voreingenommenheit ließ die Weißen einst die Angehörigen ihrer eigenen Rasse wichtiger erscheinen als diejenigen anderer Rassen, und sie deren Rechte missachten. Sexistische Voreingenommenheit führte dazu, dass Männer sich für wichtiger hielten als Frauen und deren Rechte missachteten. In der Neuzeit wurden bei der Überwindung solcher Vorurteile große Fortschritte erzielt. Doch einige Vorurteile sind heutzutage noch immer salonfähig und werden von den meisten noch nicht einmal als solche erkannt. Derartiger Schonung unterliegt auch die völkische Voreingenommenheit, d. h. das Vorurteil nach welchem uns unsere Landsleute wichtiger vorkommen als die Bürger anderer Staaten, und das uns die Rechte der im Ausland Geborenen missachten lässt.[52]
Wenn wir Amerikaner heute an den unverhohlenen Rassismus früherer Generationen zurückdenken, mag uns leicht Scham für unsere Vorfahren überkommen. Die meisten von uns würden vor der Anspielung zurückschrecken, unsere Rasse sei anderen überlegen. Wir spüren, dass wir uns nicht in die Lage versetzen können, derart Vorurteilen verhaftet zu sein. Wie konnte jemand blind für das Unrecht der Sklaverei oder der Rassentrennung sein? Doch die meisten Amerikaner – ebenso wie die meisten Menschen weltweit – haben eigentlich leichten Zugang dazu, wie es war, ein unverhohlener Rassist zu sein. Es geht darum, über die eigene Rasse Gefühle zu hegen, wie sie die meisten von uns heutzutage für ihr Vaterland hegen. Wir heutigen Amerikaner zucken ebensowenig zusammen, wenn wir die Aussage hören, Amerika sei das großartigste Land der Erde, wie es die Weißen vor hundert Jahren taten, wenn sie hörten, die weiße Rasse sei allen anderen überlegen. Wir zucken ebensowenig zusammen, wenn wir hören, amerikanische Unternehmen sollten angestammte Amerikaner [461] statt Einwanderern einstellen, wie die Amerikaner vor drei Generationen es getan hätten, wenn ihnen zu Ohren kam, dass Unternehmen im Besitz von Weißen weiße Bewerber Schwarzen vorziehen sollen. Natürlich könnten Nationalisten sich Erklärungen dafür zurechtlegen, was Nation von Rasse unterscheidet, und warum Nationalismus wirklich gerechtfertigt ist. Hier ist nicht der richtige Ort darauf einzugehen. Ich bringe schlicht als Denkanstoß vor, dass wir vielleicht nicht mit Scham auf unsere Vorfahren herabblicken sollten, und dass unsere Nachfahren ähnlich von uns denken könnten, wie wir es über unsere Vorfahren tun.
Wie dem auch sein mag; jedenfalls ist die Einwanderungsfrage in der zeitgenössischen Philosophie mit Sicherheit unterrepräsentiert gemessen an ihrer menschlichen Bedeutung. Buchstäblich Millionen von Leben treffen Einwanderungsbeschränkungen schlimm und dauerhaft. Höbe man diese Beschränkungen auf, sähen Millionen von Menschen ihre Chancen drastisch erweitert und packten die Gelegenheit beim Schopfe, ihr Los zum Besseren zu wenden. Dies macht das Einwanderungsrecht zu einem aussichtsreichen Anwärter darauf, das schädlichste Gesetzeswerk im heutigen Amerika zu sein. In Anbetracht dessen schmerzt besonders, dass diese Beschränkungen so wenig gerechtfertigt erscheinen.[53]

Fußnoten

[1]U.S. Department of Homeland Security, Yearbook of Immigration Statistics: 2007, http://www.dhs.gov/yearbook-immigration-statistics (Washington, D.C.: U.S. Department of Homeland Security, Office of Immigration Statistics, 2008; [Link vom Übersetzer aktualisiert, abgerufen am 31. Dez. 2014]), S. 5 u. 95.
[2]Beim Versuch, rechtswidrig in die Vereinigten Staaten einzuwandern, starben 2005 insgesamt 472 Menschen. Viele starben im Klima der Wüste von Arizona; zu den anderen Todesursachen zählten Ertrinken, Autounfälle und Tötungsdelikte (U.S. Government Accountability Office, “Illegal Immigration: Border-Crossing Deaths Have Doubled Since 1995; Border Patrol’s Efforts to Prevent Deaths Have Not Been Fully Evaluated”, http://www.gao.gov/new.items/d06770.pdf [Washington, D.C.: U.S. Government Accountability Office, Aug. 2006; aufgerufen am 22. Feb. 2010], S. 3–4 u. 59). Die Regierung schätzt, dass trotz ihrer Bemühungen etwa 11,6 Millionen Menschen die illegale Einwanderung gelungen ist (U.S. Department of Homeland Security, „Estimates of the Unauthorized Immigrant Population Residing in the United States: January 2008“, http://www.dhs.gov/xlibrary/assets/statistics/publications/ois_ill_pe_2008.pdf [Washington, D.C.: U.S. Department of Homeland Security, Office of Immigration Statistics, 2009; aufgerufen am 9. Apr. 2009]).
[3]Denken Sie beispielsweise an Judith Thomsons Geiger (“A Defense of Abortion”, Philosophy and Public Affairs 1 [1971]: 47–66, S. 48–49) oder Peter Singers flachen Zierteich (Practical Ethics, 2nd edition [Cambridge: Cambridge University Press, 1993], S. 229 [Praktische Ethik, Reclam]).
[4]Konsultieren Sie mein Buch Ethical Intuitionism (New York: Palgrave Macmillan, 2005) für eine allgemeine Verteidigung ethischer Intuition. Kritik am Vertrauen in fallbasierte Intuition übt Peter Singer in „Ethics and Intuitions“ Journal of Ethics 9 (2005): S. 331–352.
[5]Shelley Wilcox schlägt vor, Schaden in Bezug auf ein „Menschenrechtsdefizit“ zu definieren („Immigrant Admissions and Global Relations of Harm“, Journal of Social Philosophy 38 [2007]: 274–291, S. 279). Nach dieser Ansicht muss man zuerst feststellen, ob ein Menschenrecht verletzt wurde, um festzustellen, ob jemandem geschadet wurde. Meiner Meinung nach zäumt man damit das Pferd von hinten auf. Der Begriff des Menschenrechtsdefizits ist theoretischer und umstrittener als der Begriff des Schadens, und man sollte daher das Vorliegen eines Schadens erkennen können, ohne Menschenrechtsdefizite zu erkennen. Beispielsweise mag ein Utilitarist erkennen, dass oft Leuten geschadet wird, selbst wenn es (wie er gleichfalls glauben mag) keine Rechte gibt. Wilcox (S. 278) befürchtet, dass ein weiter gefasster Schadensbegriff zu Schwierigkeiten führen könnte, wenn man zugleich die Ansicht vertritt, dass es für Staaten generell falsch ist, Menschen zu schaden. Dieses Problem lässt sich jedoch vermeiden, indem man nur den schwächeren Grundsatz annimmt, dass es prima facie falsch ist, Menschen ernstlich und gewaltsam zu schaden. Dieser Grundsatz ist unumstritten und reicht – wie wir gleich sehen – dennoch aus, um Argumente gegen Einwanderungsbeschränkungen zu liefern.
[6]Siehe Jan Narveson, Moral Matters (Lewiston, N.Y.: Broadview, 1993), S. 138–150.
[7]Narveson (1993, S. 139) bestätigt dies, und beschreibt einen Fall als Mord, bei dem jemand davon abgehalten wird, Nahrung zu beschaffen.
[8]Siehe Robert Nozick, Anarchy, State, and Utopia (New York: Basic Books, 1974), Kapitel 3 u. 7 [Anarchie – Staat – Utopia, Olzog]; Narveson 1993, S. 146–150.
[9]Narveson (1993, S. 153–155) unterstellt, das die Armut in der Welt überwiegend von den jeweiligen Regierungen verursacht wird. Thomas Pogge (World Poverty and Human Rights: Cosmopolitan Responsibilities and Reforms [Cambridge: Polity Press, 2008], S. 218–222 [Weltarmut und Menschenrechte, De Gruyter]) behauptet dagegen, die US-Regierung sei teilweise verantwortlich für viele der Leiden der Bewohner unterentwickelter Länder.
[10]Siehe Jeff McMahan, „Killing, Letting Die, and Withdrawing of Aid“, Ethics 103 (1993): S. 250–279. Besonders klar ist Shelly Kagans Fall, in welchem der Protagonist einen Scheck zur Linderung einer Hungesnot ausgestellt und zum Versand einem Freund übergeben hat (The Limits of Morality [Oxford: Oxford University Press, 1991], S. 107). Er überlegt es sich anders und will den Scheck zurück haben, bevor sein Freund ihn abgeschickt hat. In diesem Fall wird Hilfe durch aktives Handeln zurückgehalten. Die Meisten würde dies als Zulassen statt als Zufügen von Schaden einstufen (besprochen in McMahan 1993, S. 259–260).
[11]Die Bundesregierung gibt im Jahr fast 13 Mrd. Dollar aus, um unbefugte Einwanderer abzuhalten oder abzuschieben (U.S. Office of Management and Budget, „Budget FY 2009—Department of Homeland Security“, http://www.whitehouse.gov/omb/budget/fy2009/homeland.html [abgerufen am 9. Apr. 2009]). Chandran Kukathas bringt das moralische Problem gut auf den Punkt: „Es wäre schlimm genug, diesen Menschen mit Gleichgültigkeit zu begegnen und ihnen positive Unterstützung zu verweigern. Noch schlimmer wäre es, ihnen die Möglichkeit zu nehmen, sich selbst zu helfen. Und wenn man sich die Mühe macht, seinen Mitbürgern das Recht streitig zu machen, Bedürftigen zu helfen – etwa mit einem Arbeitsplatz oder einem Obdach, ist das anscheinend noch einmal schwerer zu rechtfertigen – wenn nicht gar vollkommen pervers.“ („The Case for Open Immigration“, S. 207–220 in Contemporary Debates in Applied Ethics, Hrsg. Andrew I. Cohen und Christopher Heath Wellman [Malden, Mass.: Blackwell, 2005], S. 211).
[12]Michael Blake behauptet, Zwang könne durch eine hypothetische Übereinkunft gerechtfertigt sein, d. h. durch den Umstand, dass man den zwangsweise auferlegten Folgen unter bestimmten idealen Rahmenbedingungen zu gestimmt hätte („Distributive Justice, State Coercion, and Autonomy“, Philosophy and Public Affairs 30 [2002]: 257–296, S. 274).
[13]Siehe Susan Vroman, „Some Caveats on the Welfare Economics of Immigration Law“, S. 212–218 in Justice in Immigration, Hrsg. Warren F. Schwartz (Cambridge: Cambridge University Press, 1995); Roy Beck, The Case Against Immigration (New York: W.W. Norton and Company, 1996), S. 9f.
[14]Julian Simon und Stephen Moore befragten einen exklusiven Kreis von 27 hoch angesehenen Volkswirten, jene die entweder Vorsitzende der American-Economic-Association waren oder zu den Wirtschaftsweisen im Sachverständigenrat des Präsidenten zählten (wiedergegeben nach Julian Simon, „The Economic Consequences of Immigration“ [Oxford: Blackwell, 1989], S. 357–361). 22 Teilnehmer bewerteten die Folgen der Einwanderung auf die US-Wirtschaft im zwanzigsten Jahrhundert als „ausgesprochen günstig“, und die restlichen fünf als „leicht günstig“. Keiner hielt sie für ungünstig, und keiner sagte, er wisse es nicht. Bryan Caplan bespricht ähnliche, weniger drastische Ergebnisse einer Umfrage zur Wirtschaft unter Amerikanern und Volkswirten (The Myth of the Rational Voter [Princeton, N.J.: Princeton University Press, 2007], S. 58f).
[15]National Research Council, Panel on the Demographic and Economic Impacts of Immigration, The New Americans: Economic, Demographic, and Fiscal Effects of Immigration, Hrsg. James P. Smith und Barry Edmonston (Washington, D.C.: National Academies Press, 1997), S. 6f. Stephen Macedo („The Moral Dilemma of U.S. Immigration Policy: Open Borders Versus Social Justice?“, S. 63–81 in Debating Immigration, Hrsg. Carol M. Swain [Cambridge: Cambridge University Press, 2008], S. 66) nennt unter Berufung auf George Borjas (Heaven’s Door: Immigration Policy and the American Economy [Princeton, N.J.: Princeton University Press, 1999]) Zahlen von 4 % insgesamt und 7,4 % für Abbrecher der Oberschule im Zeitraum von 1980 bis 2000.
[16]Caplan 2007, S. 58f; Simon 1989, S. 11 u. 354f.
[17]Siehe John Isbister, „A Liberal Argument for Border Controls: Reply to Carens“, International Migration Review 34 (2000): 629–635.
[18]Peter Brimelow, Alien Nation: Common Sense about America’s Immigration Disaster (New York: Random House, 1995); Joseph Heath, „Immigration, Multiculturalism, and the Social Contract“, Canadian Journal of Law and Jurisprudence 10 (1997): 343–361, S. 347f.
[19]Der Bundesforschungsbeirat (National Research Council) schätzt (1997, S. 10), dass eine 10%ige Erhöhung der Einwanderung eine jährliche fiskalische Last von 15 bis 20 $ pro bestehendem amerikanischen Haushalt bedeuten würde. Gemäß der Haushaltsbehörde des Kongresses handelt es sich bei den teuersten staatlichen Leistungen, die Einwanderer in Anspruch nehmen, um Schulbildung, Krankenversorgung und Strafverfolgung („The Impact of Unauthorized Immigrants on the Budgets of State and Local Governments“, http://www.cbo.gov/doc.cfm?index=8711 [Washington, D.C.: Congressional Budget Office, 2007; abgerufen am 9. Apr. 2009]).
[20]National Research Council 1997, S. 11.
[21]National Research Council 1997, S. 11f
[22]Siehe Abschnitt 3.3↓ unten.
[23]Kukathas (2005, S. 213) schlägt eine vergleichbare Regelung vor. Die US-Bundesregierung schließt bereits rechtmäßig eingewanderte Bewohner in den ersten fünf Jahren nach ihrer Ankunft von Sozialhilfeleistungen des Bundes aus (Tanya Broder und Jonathan Blazer, „Overview of Immigrant Eligibility for Federal Programs“, National Immigration Law Center, http://nilc.org/x/pdf-70pct.gif [Oktober 2009; [Link vom Übersetzer aktualisiert, abgerufen am 31. Dez. 2014]]). Im allgemeinen verlangt die Bundesregierung jedoch von Regierungen auf Staats- und Ortsebene, dass diese soziale Leistungen für all ihre Bewohner erbringen, unabhängig von deren Aufenthaltsstatus (U.S. Congressional Budget Office 2007).
[24]Bei John Rawls Differenzprinzip handelt es sich um eine extreme Form der Vorrangsmeinung (A Theory of Justice [Eine Theorie der Gerechtigkeit, Suhrkamp], überarbeitet, erschienen bei [Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 1999], S. 65–70). Der Begriff „Vorrangsmeinung“ stammt von Derek Parfit, obgleich er ihn zur Beschreibung einer generellen ethischen Meinung verwendet statt zur Beschreibung einer Meinung in Hinblick auf staatliche Pflichten („Equality or Priority?“ [Lindleys Vorlesung an der Universität Kansas von 1991; Streitschrift veröffentlicht von der Universität Kansas, 1995], S. 19).
[25]Joseph Carens, „Aliens and Citizens: The Case for Open Borders“, Review of Politics 49 (1987): 251–273, S. 255–262.
[26]Isbister 2000; Blake 2002; Macedo 2008.
[27]Blake 2002, S. 274–284; Michael Blake, „Immigration“, S. 224–237 in A Companion to Applied Ethics, Hrsg. R.G. Frey u. Christopher Heath Wellman (Malden, Mass.: Blackwell, 2003), auf S. 227f.
[28]Macedo 2008.
[29]für eine einflussreiche Kritik dieser Ansicht siehe Nozick 1974, Kap. 7.
[30]Arash Abizadeh bringt dieses Argument vor in „Democratic Theory and Border Coercion: No Right to Unilaterally Control Your Own Borders“, Political Theory 36 (2008): 37–65, S. 44–48.
[31]Brimelow 1995, S. 178–181; Yael Tamir, Liberal Nationalism (Princeton, N.J.: Princeton University Press, 1993), S. 158–160; Michael Walzer, Spheres of Justice: A Defense of Pluralism and Equality (New York: Basic Books, 1983), S. 38–41 [Sphären der Gerechtigkeit, Campus-Verlag]. Michael Dummett (On Immigration and Refugees [London: Routledge, 2001], S. 50–52) erkennt ein Recht auf Einwanderungsbegrenzung zur Verhinderung des eigenen kulturellen Untergangs an, glaubt aber, dass nur wenige Länder berechtigte Sorge um einen solchen Untergang haben.
[32]Heath (1997, S. 349–350) zitiert Will Kymlicka (Liberalism, Community and Culture [Oxford: Clarendon Press, 1989], S. 165–166) in Hinsicht auf den Stellenwert der Kultur und wendet dabei dessen These auf die Einwanderungsfrage an.
[33]David Miller „Immigration: The Case for Limits“, S. 193–206 in Contemporary Debates in Applied Ethics, Hrsg. Andrew I. Cohen und Christopher Heath Wellman (Malden, Mass.: Blackwell, 2005), S. 200–201.
[34]Daniel Workman, „Coca-Cola Global Sales: India Most Promising International Market“, http://internationaltrade.suite101.com/article.cfm/coca_cola_global_sales (28. Dez. 2006; abgerufen am 30. März 2009).
[35]Daniel Workman, „McDonald’s Global Sales: Big Mac’s International Revenues Sizzle in 2006“, http://internationaltrade.suite101.com/article.cfm/mcdonalds_global_sales (24. Oktober 2006; abgerufen am 30. März 2009).
[36]Box Office Mojo, „All Time Worldwide Box Office Grosses“, http://www.boxofficemojo.com/alltime/world/ (abgerufen am 22. Feb. 2010).
[37]BBC News, „Millionaire Dominates Global TV“,
http://news.bbc.co.uk/2/hi/entertainment/4436837.stm (12. Apr. 2005; abgerufen am 30. März 2009); Daily Mail Reporter, „Coming Soon to Afghanistan ... Who Wants To Be A (Sort of) Millionaire?“, http://www.dailymail.co.uk/news/article-1078294/Coming-soon-Afghanistan--Who-Wants-To-Be-A-sort-Millionaire.html (16. Oktober 2008; abgerufen am 30. März 2009). „Wer wird Millionär“ stammt aus Großbritannien. Die Webpräsenz der nigerianischen, venezolanischen bzw. japanischen Fassung der Sendung lässt sich über http://www.millionairenigeria.com/, http://www.rctv.net/Programacion/VerPrograma.aspx?ProgramacionId=24 bzw. http://wwwz.fujitv.co.jp/quiz/index.html abrufen.
[38]Brian Barry, „The Quest for Consistency: A Sceptical View“, S. 279–287 in Free Movement: Ethical Issues in the Transnational Migration of People and Money, Hrsg. Brian Barry und Robert E. Goodin (University Park, Penn.: University of Pennsylvania Press, 1992).
[39]ebendort S. 281.
[40]D’Vera Cohn und Rich Morin, „American Mobility: Movers, Stayers, Places and Reasons“, Pew Research Center, http://pewresearch.org/pubs/1058/american-mobility-moversstayers-places-and-reasons (17. Dez. 2008; abgerufen am 2. Apr. 2009).
[41]Doug Thompson, „Legal Immigration Waiting List Long, Records Show“, The Morning News, http://www.nwaonline.net/articles/2007/05/09/news/051007arlegally.txt (9. Mai 2007; aufgerufen am 17. Apr. 2009).
[42]U.S. Department of State, „Diversity Visa Lottery 2009 (DV-2009) Results“, http://travel.state.gov/visa/immigrants/types/types_4317.html (abgerufen am 9. April 2009). Bei der Visavielfaltsverlosung waren folgende Länder nicht zugelassen: Brasilien, Kanada, China, Kolumbien, die Dominikanische Republik, Ekuador, El Salvador, Guatemala, Haiti, Indien, Jamaika, Mexiko, Pakistan, Peru, die Philippinen, Polen, Russland, Südkorea, das Vereinigte Königreich und Vietnam.
[43]Die Bevölkerungsstatistik beruht auf Schätzungen der CIA (U.S. Central Intelligence Agency, „World Factbook“, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/index.html [abgerufen am 9. Apr. 2009]).
[44]Nachdem ich die Bemerkungen niedergeschrieben hatte, stieß ich auf eine Umfrage von Gallup, die zeigt, dass die Vereinigten Staaten das weltweit begehrteste Einwanderungsziel sind, und derzufolge etwa 165 Millionen Menschen lieber in den Vereinigten Staaten leben wollen als weiterhin in ihrem Heimatland (Neli Esipova u. Julie Ray, „700 Million Worldwide Desire to Migrate Permanently“, http://www.gallup.com/poll/124028/700-million-worldwide-desire-migrate-permanently.aspx [2. Nov. 2009; abgerufen am 19. Feb. 2010]). Dennoch haben die meisten keinen erkennbaren Aufwand für einen Umzug in die V. S. betrieben.
[45]Auf der Grundlage von Schätzungen aus einer US-Volkszählung machte die Zuwanderung im Jahre 2009 0,28 % der Bevölkerung aus (wobei anzumerken wäre, dass illegale Zuwanderer nicht erfasst wurden, deren Zahl im Jahre 2009 unbekannt ist) (U.S. Census Bureau, „Estimates of the Components of Resident Population Change for the United States, Regions, and States: July 1, 2008 to July 1, 2009 (NST-EST2008-05)“, http://www.census.gov/popest/states/NST-comp-chg.html [erschienen im Dez. 2009; abgerufen am 22. Feb. 2010]; U.S. Census Bureau, „Annual Estimates of the Resident Population for the United States, Regions, States, and Puerto Rico: April 1, 2000 to July 1, 2009 (NST-EST2009-01)“, http://www.census.gov/popest/states/NST-ann-est.html [erschienen im Dez. 2009; abgerufen am 23. Feb. 2010]). Im Jahre 1854 machte die Zuwanderung fast 2 % der Bevölkerung aus (Roger Daniels, Coming to America: A History of Immigration and Ethnicity in American Life [New York: HarperCollins, 1990], S. 124). Im Jahre 1910 war 14,7 % der US-Bevölkerung im Ausland geboren (Daniels 1990, S. 125) im Vergleich zu 7,3 % im Jahre 2004, bei dem es sich um das jüngste Jahr handelt, für das die Behörde für Bevölkerungsstatistik Zahlen vorgelegt hat (U.S. Census Bureau, „Population by Sex, Age, and U.S. Citizenship Status: 2004“, http://www.census.gov/population/www/socdemo/foreign/ppl-176.html [22. Feb. 2005; abgerufen am 2. Apr. 2009]).
[46]Alle Angaben zur Bevölkerungsdichte wurde aus Zahlen der CIA berechnet (U.S. Central Intelligence Agency, 2009). Die Berechnung erfolgte unter Ausschluss von Flächen, die von Wasser bedeckt, sind nur anhand der Landfläche. In Monaco, dem am dichtesten besiedelte Land, leben 16.767 Menschen auf einem Quadratkilometer; da jedoch das Land nur aus einer einzelnen Stadt besteht, kann man nicht davon ausgehen, dass die V. S. eine ähnliche Bevölkerungsdichte auf erträgliche Weise erreichen könnten.
[47]Siehe Walzer 1983, S. 39–41; Stephen Kershnar, „There Is No Moral Right to Immigrate to the United States“, Public Affairs Quarterly 14 (2000): 141–158, S. 143; Christopher Heath Wellman, „Immigration and Freedom of Association“, Ethics 119 (2008): 109–141, S. 110–114. Doch diejenigen, welche diese Ansicht verteidigen, behaupten im Allgemeinen nicht, der Staat dürfe Einwanderer aus beliebigen Gründen ausschließen – etwa aus rassischen Gründen (Miller 2005, S. 204; Wellman 2008, S. 139–140).
[48]Phillip Cole (Philosophies of Exclusion: Liberal Political Theory and Immigration [Edinburgh: Edinburgh University Press, 2000], S. 72) bemerkt zurecht, dass es Walzer nicht gelang zu zeigen, dass politische Gemeinschaften in relevanter Hinsicht privaten Clubs entsprechen. Ich gehe hier weiter, indem ich einige relevante Unterschiede aufzeige.
[49]Blake (2002, S. 268) erkennt die moralische Bedeutung von Zwang, scheint aber den Zwangscharakter von Einwanderungsbeschränkungen zu übersehen.
[50]Zum angeblichen Recht auf Freizügigkeit siehe Joseph Carens, „Migration and Morality: A Liberal Egalitarian Perspective“, S. 25–47 in Free Movement: Ethical Issues in the Transnational Migration of People and Money, Hrsg. Brian Barry und Robert E. Goodin (University Park, Penn.: University of Pennsylvania Press, 1992); Miller 2005, S. 194–197; Kershnar 2000, S. 151–153; Barry 1992, S. 283–285. Zu Fragen der Verteilungsgerechtigkeit siehe Wellman 2008, S. 121–130; Miller 2005, S. 197–199; Blake 2002; Carens 1987, S. 255–262; Veit Bader, „Citizenship and Exclusion: Radical Democracy, Community, and Justice. Or, What Is Wrong with Communitarianism?“ Political Theory 23 (1995): 211–246, S. 214f. Einige Autoren gehen auf das Problem schädlichen Zwangs ein (Abizadeh 2008; Kukathas 2005, S. 210f).
[51]Carens (1992) behandelt egalitären Liberalismus; Cole (2000) und Isbister (2000) behandeln Liberalismus im Allgemeinen; Carens (1987) bespricht Libertarismus, Utilitarismus und Rawls Differenzprinzip; Wellman (2008, S. 130–137) bespricht Libertarismus.
[52]Caplan (2007, S. 36–39, 58f, 66, 69–71) bespricht mehrere Erscheinungsformen der Voreingenommenheit gegenüber Ausländern.
[53]Ich würde gerne zwei anonymen Schiedsrichtern bei Social Theory and Practice meinen Dank für ihre hilfreichen Kommentare zum Manuskript aussprechen.