Gegen Gleichheit
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von Thomas Leske

ein reicher und ein armer Mann beim Essen

Zusammenfassung Huemer verteidigt den Non-Egalitarismus gegen die Intuition der Egalitaristen, indem er zeigt, dass diese im Widerspruch zu anderen weniger umstrittenen und emotionalen Intuitionen steht. Egalitarismus im Sinne dieses Aufsatzes ist die Auffassung, Gleichheit bei der Wohlstandsverteilung unter den Menschen sei wesenhaft gut.

Stichworte: Egalitarismus, soziale Gerechtigkeit, ethische Intuition

Zitiervorschlag: . „Gegen Gleichheit“. In Wider die Anmaßung der Politik, Thomas Leske (Hrsg., Übers., Verlag), Gäufelden 2015, ISBN 978-3981761603, S. 149159, Fassung vom 2016-08-02.

1 Die Glaubenssätze des Egalitarismus und Non-Egalitarismus

Die Form des Egalitarismus, mit der ich mich befasse, besagt, Gleichheit bei der Wohlstandsverteilung unter den Menschen sei wesenhaft gut. Mit anderen Worten sei es gut, wenn es den Leuten gleich gut geht, und schlecht, wenn es einigen besser geht als anderen, ohne Berücksichtigung weiterer Folgen einer derartigen Gleichheit oder Ungleichheit.[1] Non-Egalitarismus ist die Auffassung, Gleichheit in der Wohlstandsverteilung unter den Menschen sei wesenhaft neutral, d. h. ohne Berücksichtigung nützlicher oder schädlicher Folgen komme es nicht darauf an, ob es den Leuten gleich gut geht. Ihn verteidige ich in den folgenden beiden Abschnitten.
Aus einer Reihe von Gründen kann man denken, Gleichheit in der Wohlstandsverteilung unter den Menschen („zwischenmenschliche Gleichheit“) sei instrumentell gut oder schlecht. Beispielsweise verursacht Ungleichheit zwischen den Menschen vielleicht Groll und Unzufriedenheit auf Seiten derer, die weniger haben, was ihr Wohlbefinden zusätzlich absenkt. Vielleicht gefährdet sie sogar die politische Stabilität. Dies wären Gründe dafür, Gleichheit instrumentell für gut zu halten. Andererseits spornt Ungleichheit vielleicht den Arbeitseifer der Leute an, was insgesamt zu einem höheren durchschnittlichen Wohlbefinden führt. Dies wäre ein Grund, Ungleichheit instrumentell für gut zu halten. Dabei handelt es sich nicht um die Art von Gründen, die ich hier betrachte. Hier geht es mir nur um die Frage, ob Gleichheit einen inneren Wert hat, d. h. ob es an sich besser für die Menschen ist, gleich zu sein, wenn wir weitere mögliche Folgen der Gleichheit außer Acht lassen.
Es gibt viele, die an einen inneren Wert der Gleichheit glauben. Ihre Überlegung lautet, dass es ungerecht sei, wenn es einigen Leuten besser ergeht als anderen, unabhängig davon, ob Ungleichheit die Menschen unglücklich macht oder sie fleißiger arbeiten lässt usw. Sie glauben also, dass es unter sonst gleichen Umständen besser ist, wenn Gleichheit herrscht.

2 Das grundlegende Argument gegen Egalitarismus

Um zu prüfen, ob Gleichheit einen inneren Wert hat, bitte ich Sie, sich drei sehr einfache mögliche Welten vorzustellen. In jeder Welt leben nur zwei Menschen, Antoinette und Bubba, die beide hundert Jahre alt werden.
  • In Welt 1 haben Antoinette und Bubba jeweils ein Wohlbefinden in Höhe von 75, was ziemlich gut ist. (Stellen Sie sich vor, dass diese Zahl ein Maß für die Summe aller Aspekte des Wohlbefindens ist, etwa wie viel Vergnügen man hat, wie es um Gesundheit und Wissen bestellt ist, und was Sie sonst noch für das Wohlbefinden als wichtig erachten.)
  • In Welt 2 hat Antoinette ein Wohlbefinden in Höhe von 100 in der ersten Hälfte ihres Lebens doch in der zweiten Hälfte nur noch eines in Höhe von 50. Dagegen hat Bubba in seiner ersten Lebenshälfte ein Wohlbefinden in Höhe von 50 und in seiner zweiten Hälfte eines in Höhe von 100.
  • In Welt 3 hat Antoinette ein Wohlbefinden in Höhe von 100 über ihr gesamtes Leben, wogegen der arme Bubba nur eines in Höhe von 50 über sein gesamtes Leben hat.
Abbildung 1↓ zeigt diese drei Welten.
Abbildung drei_welten.png
Abbildung 1 Drei Welten
Unter sonst gleichen Umständen (d. h. es bestehen keine für die Bewertung relevanten Unterschiede zwischen diesen Welten, die nicht in meiner Beschreibung angegeben sind) ist dem Egalitarismus zufolge Welt 1 klar besser als Welt 3. Ich dagegen möchte Sie davon überzeugen, dass Welt 1 und 3 gleich gut sind. Mein grundlegendes Argument lautet:
  1. Welt 1 und 2 sind gleich gut.
  2. Welt 2 und 3 sind gleich gut.
  3. Deswegen sind Welt 1 und 3 gleich gut.
Um die Darstellung zu vereinfachen, führe ich folgende Variablen ein:
v1  =   Der Wert von Welt 1. v2  =   Der Wert von Welt 2. v2a  =  Der Wert der ersten Hälfte von Welt 2. v2b  =  Der Wert der zweiten Hälfte von Welt 2. v3  =   Der Wert von Welt 3. v3a  =  Der Wert der ersten Hälfte von Welt 3. v3b  =  Der Wert der zweiten Hälfte von Welt 3.
Mit diesen Symbolen lautet mein Argument wie folgt:
  1. v1 = v2 Prämisse.
  2. v2 = v3 nachfolgend aus (a) bis (e)
    1. v2a = v2b Prämisse.
    2. v3a = v3b Prämisse.
    3. v2a = v3a Prämisse.
    4. v2 = v2a + v2b Prämisse.
    5. v3 = v3a + v3b Prämisse.
    6. v2 = v3 aus (a) bis (e)
  3. v1 = v3 aus 1 und 2
Offensichtlich folgt der Schluss aus den Prämissen, und offensichtlich ist er mit dem Egalitarismus unvereinbar. Wir brauchen also nur noch die Prämissen zu untersuchen: Warum meine ich, dass (1), (2a), (2b), (2c), (2d) und (2e) alle zutreffen?

3 Die Prämissen des Arguments

Prämisse 1: V1 = V2

Warum halte ich Welt 1 und 2 für gleich gut? Nun Welt 2 hat dieselbe Durchschnittshöhe an Wohlbefinden (75) wie Welt 1, in beiden lebt dieselbe Zahl von Menschen gleich lang, beide stimmen völlig überein, und wir haben unterstellt, dass es keine anderen bewertungsrelevanten Faktoren in den zwei Welten gibt.
In Welt 1 herrscht offensichtlich Gleichheit. Was ist mit Welt 2? Nun in Welt 2 geht es Antoinette insgesamt genauso gut wie Bubba, beide erhalten in einer Lebenshälfte 100 und in der anderen 50. Sie erzielen beide im Wohlergehen eine Durchschnittshöhe von 75. Wenn man jemanden in eine Welt wie Welt 2 setzen würde, hätte er keinen vernünftigen Grund, Antoinettes Platz dem von Bubba vorzuziehen und umgekehrt. In der Sprechweise des grundlegenden Argumentes für den Egalitarismus können wir fragen: Gegenüber wem könnte Welt 2 ungerecht sein? Vielleicht lockt die Antwort: „Die ersten fünfzig Jahre über ist das Leben ungerecht gegenüber Bubba, und die letzten fünfzig Jahre über ist es gegenüber Antoinette ungerecht.“ Doch weil Antoinette und Bubba insgesamt die gleiche Menge an Gütern bekommen, fällt schwer zu verstehen, wie die Welt insgesamt gegenüber einem der beiden ungerecht sein sollte.
Mancher findet vielleicht, dass es Antoinette in Welt 2 besser hat, weil sie nicht darauf warten muss, ihren genussreichen Lebensabschnitt zu erreichen; sie entgeht damit einem Gefühl der Ungeduld, das sich aus der 50-jährigen Warterei ergibt. Andererseits finden andere vielleicht, dass es Bubba eigentlich besser hat, weil er 50 Jahre lang in freudiger Erwartung lebt, wogegen Antoinette, nachdem sie 50 geworden ist, weiß, dass es von da an nur noch bergab geht. Auf mein Beispiel trifft jedoch keines von beiden zu: Stellen Sie sich vor, dass Bubba tatsächlich keine zusätzliche Unzufriedenheit aus Ungeduld verspürt und auch kein zusätzliches Vergnügen aus freudiger Erwartung bezieht. Sowohl Antoinette als auch Bubba ist es egal, wann sie im Leben ihre Güter bekommen. Wir nehmen auch an, dass keiner von beiden irgendeinen Groll verspürt, der sich aus der ungleichen Höhe ihres Wohlbefindens ergibt. Wir unterstellen dies, um uns darauf zu konzentrieren, ob Ungleichheit wesenhaft schlecht ist, ohne dass uns belanglose Fragen ablenken. Wenn Welt 2 insgesamt weniger Glück enthält, dann ist sie offensichtlich schlechter als Welt 1, doch wäre eine Untersuchung dieses Falles nicht relevant für die Beurteilung des Egalitarismus. Entscheidend für mein Argument ist der Fall, in dem Welt 2 insgesamt denselben Betrag an Glück enthält wie Welt 1, und sich dieses nur zeitlich anders verteilt.

Prämisse 2a: V2a = V2b

Anscheinend sind die beiden Hälften von Welt 2 gleich gut, weil sie qualitativ übereinstimmen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass Antoinette und Bubba die Plätze getauscht haben, von Antoinette im Glück zu Bubba im Glück. Doch weder Antoinette noch Bubba sind wichtiger als der jeweils andere, so dass diese zwei Umstände gleich gut sind.

Prämisse 2b: V3a = V3b

Anscheinend sind beide Hälften von Welt 3 gleich gut, weil sie qualitativ übereinstimmen, wobei noch nicht einmal Antoinette und Bubba die Plätze tauschen. Obschon es vielleicht einen Grund dafür gibt, Welt 3 in einer Hinsicht für schlecht zu halten, der von ihrer Ungleichheit herrührt, scheint kein Grund für die Meinung zu sprechen, die ersten 50 Jahre Ungleichheit seien in irgendeiner Weise besser oder schlechter als die späteren 50 Jahre Ungleichheit.

Prämisse 2c: V2a = V3a

Anscheinend ist die erste Hälfte von Welt 2 genauso gut wie die erste Hälfte von Welt 3, weil sie qualitativ übereinstimmen, und noch nicht einmal Antoinette und Bubba die Rollen tauschen, und noch nicht mal ein zeitlicher Unterschied besteht. Die Welten 2 und 3 weichen erst nach 50 Jahren voneinander ab, nachdem die erste Hälfte der jeweiligen Welt bereits vergangen ist. Was nach dem Jahr 50 passiert, sollte keinen Einfluss auf den Wert der ersten 50 Jahre haben; man sollte die Vergangenheit nicht nachträglich verbessern oder verschlechtern können.

Prämissen 2d, 2e: V2 = V2a + V2b; V3 = V3a + V3b

Anscheinend sollte der Wert jeder Welt die Summe der Werte ihrer Hälften sein. Ich nenne diesen Grundsatz „zeitliche Additivität“ (Wert sammelt sich über die Zeit an). Er entspricht der Intuition. Doch Vertreter des Egalitarismus bestreiten dies vielleicht, weil (a) sie Ungleichheit für wesenhaft schlecht halten, wobei (b) diese sich offensichtlich nicht im Zeitverlauf addiert (d. h. man kann nicht bestimmen, wie viel Ungleichheit die Welt enthält, indem man den Betrag der Ungleichheit jedes Zeitabschnitts addiert). Beispielsweise besteht in Welt 2 über die ersten 50 Jahre viel Ungleichheit und über die letzten 50 Jahre viel Ungleichheit; und doch herrscht in der Welt als Ganzes Gleichheit, weil die Ungleichheit der beiden Hälften der Welt sich aufhebt. Weil also Ungleichheit offensichlich nicht-additiv ist, mag man zu dem Schluss neigen, dass Wertbeträge nicht-additiv sein sollten. Man mag dann zu der Aussage neigen, dass V2 > V2a + V2b, weil Welt 2 als Ganzes einen gewissen zusätzlichen Wert erhält (über den Wert ihres ersten und zweiten Abschnitts hinaus) infolgedessen, dass in ihr Gleichheit herrscht, wogegen weder in der ersten noch in der zweiten Hälfte der Welt Gleichheit herrscht.
Es ist unklar, bei wem die Beweislast liegt. Obiges Argument gegen zeitliche Additivität setzt offensichtlich Egalitarismus voraus. Wenn sie zunächst intuitiv plausibel ist, dann lässt sich ein Argument dagegen, das mit dem Egalitarismus genau die These voraussetzt, gegen die ich einen Beweis führen will, vielleicht als Zirkelschluss bezeichnen. Andererseits würden manche sagen, dass Egalitarismus so eng mit der Nicht-Additivität verknüpft ist, dass meine Annahme temporaler Additivität ein Zirkelschluss ist.
Glücklicherweise müssen wir es nicht damit bewenden lassen. Zumindest ist klar, dass wenn ich ein unabhängiges Argument für zeitliche Additivität vorbringen kann, ein Anhänger des Egalitarismus nicht (ohne Zirkelschluss) damit fortfahren kann, sie bloß aus dem Grund abzulehnen, dass sie nicht mit dem Egalitarismus vereinbar ist. Täte er dies, würde er sich einer dogmatischen Methode verschreiben, wonach ihn kein Argument von seiner Position abbringen kann, da er schlicht die unterstellte Wahrheit seiner Position zur Zurückweisung jedweder Kritik verwenden kann.
Es gibt ein unabhängiges Argument für zeitliche Additivität: Sie zu leugnen, führt zu einer Art Paradox in der Entscheidungstheorie. Stellen Sie sich vor, dass Gott Ihnen kundtut, dass Er im Begriff ist, eine neue Welt zu erschaffen; nennen wir sie Welt 4. Diese Welt wird 100 Jahre bestehen und dabei keine Wechselwirkung mit ihrer Welt eingehen. Gott bietet Ihnen die Gelegenheit, an der Planung von Welt 4 mitzuwirken. Er hat sich schon entschieden, wie die erste Hälfte der Welt verläuft, und Er gibt Ihnen eine ausführliche Beschreibung davon. Nennen wir die erste Hälfte dieser Welt Teil I. Gott erklärt Ihnen anschließend, dass die zweite Hälfte der Welt eine von zwei Ausprägungen haben wird, die Er ebenfalls ausführlich beschreibt – nennen wir sie Teil IIa und Teil IIb. Zum Abschluss nehmen wir an, dass Sie wissen, dass Teil IIa besser als Teil IIb ist, doch wegen der Nicht-Additivität von Wertbeträgen die Kombination von Teil I mit Teil IIa schlechter ist als die Kombination von Teil I mit Teil IIb. Mit anderen Worten wäre die zweite Hälfte der Welt besser, wenn Gott Teil IIa erschüfe, doch die Welt als Ganzes wäre schlechter. Ohne zeitliche Additivität ist all dies möglich. Nehmen wir jetzt an, Gott fragt Sie: „Was soll ich Deiner Meinung nach erschaffen: Teil I & Teil IIa oder Teil I & Teil IIb?“
Angenommen Sie sind wohlwollend und wollen nur das Beste tun, also die Möglichkeit mit den besten Konsequenzen wählen. Sie sagen also: „Gott, erschaffe Welt 4 mit Teil I & Teil IIb, weil auf diese Weise die Welt insgesamt besser wird.“ Gott billigt das und verschwindet anschließend.
Nach 50 Jahren erscheint Gott erneut und schildert die Lage: Welt 4 bestehe nun seit 50 Jahren und alles verlaufe nach Plan. Teil I der Welt laufe soeben ab, und Teil II gehe gleich los. Er sagt: „Übrigens, ich wollte nur nochmal sichergehen, ob du bei deiner früheren Entscheidung bleibst: Meinst du immer noch, ich soll Teil IIb anlaufen lassen, oder überlegst du es dir nochmal und bist stattdessen für Teil IIa?“ Sie denken über diese jüngste Frage nach. Ihnen wird klar, dass Sie, nachdem die erste Hälfte der Welt schon abgelaufen ist, nichts tun können, um diese zu beeinflussen. Alles was Sie beeinflussen können, ist, wie gut die nächsten 50 Jahre von Welt 4 werden. Also sagen sie, da sie immer noch wohlwollend sind und nur tun wollen, was zu den besten Konsequenzen führt: „Weißt du was, Gott, ich habe es mir anders überlegt: Erschaffe Teil IIa!“
In beiden Fällen haben Sie sich richtig entschieden: Als Gott Sie das erste Mal befragt hat, mussten Sie zwischen (Teil I + Teil IIa) und (Teil I + Teil IIb) wählen. Es war vernünftig und richtig von Ihnen (Teil I + Teil IIb) zu wählen, weil es sich um die bessere Wahl handelte. Doch als Gott abermals auf Sie zutrat, mussten Sie zwischen Teil IIa und Teil IIb entscheiden. Es war vernünftig und richtig von Ihnen Teil IIa zu wählen, weil es sich um die bessere Wahl handelte (Abbildung 2↓).
Abbildung entscheidung.png
Abbildung 2 paradoxe Entscheidungen
Dies ist paradox. Eine Wahl zwischen (Teil I + Teil IIa) und (Teil I + Teil IIb) sollte der Wahl zwischen Teil IIa und Teil IIb entsprechen, vorausgesetzt dass Teil I geschehen ist. Wenn Sie eine vernünftige und richtige Entscheidung treffen, und keine neuen Informationen auftauchen, also nichts passiert, von dem Sie nicht schon wussten, dass es geschehen würde, dann ergibt es keinen Sinn, dass Sie Ihre Meinung ändern sollten. (Stellen Sie sich vor, dass jemand Sie fragt: „Falls es regnen sollte, wollen Sie dann einen Regenschirm?“ und Sie antworten: „Ja.“ Als es später anfängt zu regnen, sagt er: „Sie wollen jetzt sicher den Regenschirm haben, stimmt’s?“ und Sie antworten: „Nein.“ Hier erscheint etwas ungereimt.) Doch derlei Dinge können geschehen, wenn man zeitliche Additivität bestreitet. Wir können dem Paradox aus dem Weg gehen, indem wir akzeptieren, dass Wertbeträge sich im Zeitverlauf addieren.

4 Fazit

Egalitarismus stützt sich gänzlich auf einen Appell an die Intuition: Die Intuition, dass Ungleichheit ungerecht sei, und dass dies schlecht sei. Ich verteidige die Verwendung von Intuition in der Ethik.[2] Doch an Intuition soll nicht unkritisch appelliert werden. Viele Intuitionen sind fehlerhaft und verzerrt durch Gefühle und andere Vorlieben (engl.: biases). Anzeichen für den Umstand, dass eine Intuition verzerrt ist, bestehen unter anderem darin, (a) dass sie mit einer politischen Weltanschauung zusammenhängt, beispielsweise wenn Sozialdemokraten eher zu ihr neigen als Konservative; (b) dass sie mit bestimmten Gefühlen einhergeht; und (c) dass sie zu paradoxen Ergebnissen führt oder anderen Intuitionen widerspricht, die mit geringerer Wahrscheinlichkeit durch Vorlieben beeinflusst sind. Höchstwahrscheinlich handelt es sich bei der Intuition, dass Gleichheit einen inneren Wert hat, um eine Vorliebe. Andererseits ist es sehr unwahrscheinlich, dass es sich bei der Intuition, dass Wertbeträge additiv sind, oder qualitativ übereinstimmende Ereignisse denselben Wert haben, um eine Vorliebe handelt. Letztere Grundsätze gehen mit keinen merklichen Gefühlen einher; sie sind keine Eckpunkte sozialdemokratischer, konservativer oder sonstiger Weltanschauung; und sie kommen überhaupt eher dafür in Frage, Ergebnis intellektueller Überlegung zu sein. Daher handelt es sich um die Art von Grundsätzen, die zur Lösung ethischer Konflikte und zum Ausmerzen instinktiver Fehler herangezogen werden sollten, wenn solche Konflikte sich überhaupt beilegen und solche Fehler ausmerzen lassen. Wir sollten daher auf das Argument aus Abschnitt 2↑ nicht mit der Ablehnung einer der Prämissen reagieren, um an unserer Intuition bezüglich der Gleichheit festhalten zu können. Stattdessen sollten wir den Wert der Gleichheit aufgeben angesichts seiner Unvereinbarkeit mit abstrakten Wertgrundsätzen, die auf vernünftiger Überlegung beruhen.

Fußnoten

[1]Im Anschluss behandle ich den inneren Wert der Gleichheit als übereinstimmend mit dem inneren Unwert der Ungleichheit. Genauer gesagt, befasse ich mich (nur) damit, ob Gleichheit wesenhaft besser ist als Ungleichheit.
[2]Ethical Intuitionism, 2005